Die Altersfrage
Seit er sich erinnern kann, ist Geri Weibel jung gewesen. Meistens eher zu jung. Die, nach denen er sich richtete, waren in der Regel älter als er. Und wenn nicht, dann auf jeden Fall innerlich gereifter.
Das war schon so im Kindergarten. Er litt sein ganzes erstes Jahr darunter, dass es solche gab, die bereits im zweiten Jahr waren und „Muh, muh, muh, ruft die bunte Kuh“ schon konnten. Als er ins zweite Jahr kam, litt er ab sofort darunter, dass er noch im Kindergarten war, und die anderen schon in der Schule. Er bewunderte die Erstklässler, die dem Kindergarten aus der Welt der Grossen einen Besuch abstatteten und probierte die gönnerhafte Herablassung, mit der sie die Kindergärtner behandelten, an den Neuen vom ersten Jahr aus.
Falls Geri je unter dem Altersprozess litt, dann darunter, dass dieser zu langsam fortschritt. Das änderte sich auch später nicht. In der Schule, in der Ausbildung, im Beruf, in der Freizeit und in seinem sozialen Umfeld: Immer waren seine Vorbilder älter als er.
Geri Weibel, der sich ungern unterscheidet von den Leuten, zu denen er gehören will, findet sich schwer ab mit der Unabänderlichkeit des Altersunterschieds. Er neigt dazu, sich älter zu machen als er ist. Jedesmal ist er überrascht, wenn er an seinem Geburtstag erst so alt wird, wie er sich seit einem Jahr gibt.
Das Älterwerden an sich ist für Geri kein Thema. Denn innerhalb der Szene des Mucho Gusto und der SchampBar findet es nicht statt. Sie altert kollektiv. Die Altersunterschiede bleiben. Und wie sie als Gesamtheit in Beziehung zur Aussenwelt älter wird, ist ihr nicht bewusst. Denn sie pflegt kaum Beziehungen zur Aussenwelt.
Das ändert sich, als Robi Meili, das Trendbarometer des Mucho Gusto, seine ersten grauen Haare bekommt. Geri entdeckt sie sofort. Er beobachtet Meili immer besonders aufmerksam, um die Zeitströmungen schon im Ansatz mitzubekommen und rechtzeitig reagieren zu können. Deswegen entgeht ihm nicht, dass bei Meili sowohl im Schläfen- als auch im Stirnbereich Silberfäden aufblitzen.
Geri hat sich angewöhnt, Trendansätze nicht zu kommentieren, sondern zu registrieren und so unauffällig wie möglich aufzunehmen. Als kämen sie von ihm. Er wundert sich zwar über das Comeback der Fussballer-Méche, aber da er weiss, dass man sich auf Robi Meili in dieser Beziehung (und in keiner anderen) verlassen kann, meldet er sich beim Coiffeur an.
Der Trend ist so neu, dass nicht einmal Marcello etwas davon weiss. „Nein, keine Büschelchen, nur ein, zwei, höchstens drei Haare auf’s Mal“, erklärt er ihm geduldig. Marcello zuckt die Schultern und macht sich an die Arbeit. Bald sitzt Geri in einer Art Badkappe da, aus der vereinzelt dünne Haarsträhnen ragen, wie die welken Daunen auf dem kahlen Schädel des Marabus.
„Wie graue Haare“, ist Marcellos Kommentar, als er fertig ist. Aber Geri ist mit dem Resultat zufrieden. Es ist die konsequente Fortführung von Robi Meilis Ansatz.
Im Mucho Gusto stellt sich heraus, dass dieser den Trend nicht weiterverfolgt. Im Gegenteil, er hat ihn zurückgenommen. Dort, wo vorher die Mikro-Méches blitzten, wellt sich wieder das alte, monochrome Brünett.
Geri, der einzige Melierte am Stammtisch, fühlt sich sehr fehl am Platz. Aber niemand macht eine Bemerkung. Später, vor dem Badezimmerspiegel, findet Geri eine mögliche Erklärung für diese ungewöhnliche Reaktion. Vielleicht hat Marcello recht: es sieht aus wie graue Haare. Da aber der Alterungsprozess im Mucho Gusto nicht stattfindet, werden Beweise des Gegenteils ignoriert.
Ob es darum geht, einen Trend aufzunehmen oder darum, einen Trendentscheid zu korrigieren, Geri reagiert in beiden Fällen schnell. Schon am nächsten Tag konsultiert er Marcello, der sich dreimal bestätigen lässt, dass er von Anfang an gesagt habe, es sehe aus wie graue Haare. Er sieht keine andere Lösung als eine leichte Tönung. Eine Massnahme, in die Geri nach einigem Zögern einwilligt.
Bevor er an diesem Abend ausgeht, prüft er sich genau im Spiegel. Möglich, dass Marcello den Farbton nicht hundertprozentig getroffen hat, befindet Geri, aber der diskrete Kastanienglanz macht sich gut.
An diesem Abend fällt am Stammtisch im Mucho Gusto das erste Mal, seit Geri dort verkehrt, eine Bemerkung zum Thema Alterungsprozess. Robi Meili ist es, der das Tabu bricht. Mit folgenden Worten:
„Wisst Ihr, was ich noch schlimmer finde, als mit den Schläfenhaaren die Glatze zukleben? Die Haare färben, wenn die ersten grauen kommen.“ Alle schauen Geri an.