Die Alkoholfrage
Für jemanden, der Wert darauf legt, nichts falsch zu machen, ist Alkohol das reinste Gift. Ihn zu meiden kann so falsch sein wie ihn zu trinken. Und selbst dann, wenn es kein Fehler ist, ihm zuzusprechen, kann er die Ursache nicht wiedergutzumachender Folgefehler sein.
Geri Weibel ist kein Trinker. Bis zwanzig wurde ihm schlecht von zwei Stangen, bekam er Magenbrennen vom Weißen und eine pelzige Zunge vom Roten. Es hatte viel gebraucht, bis er sich zu einem brauchbaren Gesellschaftstrinker gemausert hatte. Aber dann hielt er ganz passabel mit.
Lange war es im „Mucho Gusto“ korrekt gewesen, die Zeit bis das Mittagsmenü gebracht wurde mit einem Bierchen totzuschlagen, zum Essen etwas Roten zu bestellen und den Kaffee mit einem „Carlos I“ zum Carajillo zu frisieren. Geris Versuche, unauffällig wenigsten etwas davon zu überspringen, waren vom Tisch als stille Vorwürfe registriert worden. Was dann genau den Umschwung ausgelöst hatte, konnte er nie rekonstruieren. Er kam eines Tages aus den Ferien zurück („Kuba, bevor es die Amerikaner ganz kaputt gemacht haben“), bestellte sein San Miguel im Vorbeigehen und musste erleben, wie es ihm neben das Gedeck gezirkelt wurde wie etwas Ansteckendes. Da stand es dann inmitten der unschuldig perlenden Perriers wie ein Sittenstrolch auf dem Kinderspielplatz. Geri wusste sich nicht anders zu helfen, als es unberührt durch ein San Pellegrino ersetzen zu lassen. (Ein Perrier wäre ihm als anpasserisch ausgelegt worden.)
Geri Weibel musste also davon ausgehen, dass Alkohol zum Lunch jetzt als uncool gilt. Die letzten Zweifel beseitigte die Bemerkung von Robi Meili über den Werber- und den Bankertisch, der sich Zeit ließ, sauber zu werden. „Die bescheißen ihre Arbeitgeber. Verkaufen die Arbeitskraft von Nüchternen und liefern die Arbeit von Besoffenen.“
Geri war etwas erstaunt über diese Töne aus dem Mund des Trendbarometers des „Mucho Gusto“. Vor kurzem begründete Meili jeweils seinen zweiten Carajillo nach dem Essen damit, dass dem Menschen die Demütigung, arbeiten zu müssen, um zu überleben, nüchtern nicht zugemutet werden könne. Aber es ist nicht Geri Weibels Aufgabe, Trendwenden zu hinterfragen. Er ist froh, wenn er sie einigermaßen rechtzeitig mitbekommt und sie nicht allzu kompliziert zu befolgen sind.
Werber- und Bankertisch hielten noch eine Weile durch. Der Werbertisch fiel als erster. Ein schwedisches Mineralwassers in blauen Flaschen half ihm, das Gesicht zu wahren. Es ließ den Verzicht aussehen wie der bewusst getroffene Entscheid meinungsbildender Konsumenten. Der Bankertisch bäumte sich noch einmal auf, ließ schwere Portugiesen und exotische Spumante auffahren – und blieb eines Tages leer. „Kantine“ vermutete Freddy Gut. „Gefeuert“ Robi Meili.
Während man eben noch mit Alkohol am Mittag Unkündbarkeit demonstrierte, gilt er jetzt als Symbol der Entbehrlichkeit. Nur Arbeitslose und Pensionierte können es sich leisten, schon am Nachmittag besoffen zu sein.
Geri Weibel kommt mit diesem Teil der Trendwende problemlos zurecht. Ihm machen, wie immer bei Regeln, die Ausnahmen zu schaffen. Diese werden meistens am Abend gewährt. In der „SchampBar“, deren Name noch von vor Mururoa stammt (danach stellte sie auf Cavas aus noch nicht so bekannten Häusern um), wird zwar nach wie vor von den Habitués kaum Alkohol getrunken. Es sei denn in Form von raren, kulinarischen Destillaten.
Eine Nuance, die Geri Weibel entgeht: Er lehnt einen im Maulbeerholzfässchen gereiften sortenreinen Lampnästler, den ihm Robi Meili offeriert, vorschnell mit den Worten ab: „Muss morgen früh raus.“ Als er realisiert, dass er sich damit nicht nur als kulinarischen Banausen, sondern auch als Alkoholiker zu erkennen gegeben hat, versucht er die Scharte mit der Verkostung eines guten Teils der 350 destillierten Kirschensorten der Zentralschweiz auszuwetzen.
An sich noch kein Fehler. Aber dann, nach den Hemmikern, einem makellosen, herrlich ausgebauten Fruchtbrand aus einer wohl mittelhohen Lage (durchlässige, kalkhaltige Bodenstruktur) singt er in die plötzliche Stille der „SchampBar“ mit seiner schönen, vollen Stimme sämtliche Strophen von „Schnaps, das war sein letztes Wort“. Ein nicht wiedergutzumachender Folgefehler.
April 1997