Ziegler denkt das Undenkbare
Ein schöner Tag für Januar. Warm genug für einen Platz an einem der Tische im Windschatten, kalt genug für eine Gerstensuppe. Ziegler wartet auf Doris. Er ist zu früh, weil er zu spät gekommen wäre, wenn er noch eine Abfahrt gemacht hätte. Er hat beim Mädchen in der Sennenbluse zum Veltliner schon mal eine Gerstensuppe bestellt. Man sieht es hier nicht gerne, wenn zur Mittagszeit die Gäste nur trinken.
Ziegler löffelt seine Suppe und beobachtet durch die verspiegelte Sonnenbrille die Gäste. Am Nebentisch sitzt ein Mann mit dem Rücken zu ihm alleine an einem Vierertisch. Auf dem Platz neben ihm hat er einen Handschuh gelegt, die beiden anderen Stühle sind mit dem zweiten Handschuh und einem Halstuch besetzt. Er studiert seit einer Viertelstunde die Speisekarte und fährt dabei mit seinem dicken Zeigefinger den Zeilen entlang. Bestimmt bewegt er die Lippen dazu, denkt Ziegler.
Plötzlich legt der Mann die Karte weg und beginnt vorwurfsvoll auf den Tisch zu trommeln. Was es doch für Armleuchter gibt, denkt Ziegler und löffelt seine Suppe.
Es dauert keine Minute, bis das Mädchen in der Sennenbluse den Trommler fragt, ob er bestellen wolle. Seine Stimme übertönt die Geräuschkulisse aus Stimmen, Gelächter und dem Getrampel der Skischuhe auf den Holzbohlen der Sonnenterrasse: „Chile con Carne, ist das mit Fleisch?“
Mein Gott, denkt Ziegler, und dazu auch noch blöd. Er kann sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. Der Mann wirft einen empörten Blick über die Schulter. Für einen Augenblick sieht Ziegler sein Gesicht. Es ist Würsch.
Würsch, einer der Topshots des nationalen Managements! Und Ziegler taxiert ihn als Armleuchter (und dazu auch noch blöd)! Er ist wie vom Donner gerührt. Würsch! Einer der Unumstrittensten in seinem Weltbild, ein Armleuchter (und dazu auch noch blöd). Der Mann, der seit bald fünfzehn Jahren an der Spitze der sfdg steht.
Ziegler nimmt einen Löffel Suppe und merkt, dass seine Hand zittert. Das Nachbeben der Explosion, die die Fusion der beiden Unvereinbarkeiten Würsch und Armleuchter ausgelöst haben. Wie könnte einer ein Unternehmen managen, dessen Aktien seit Jahren anerkannte Blue Chips sind, und gleichzeitig ein Armleuchter (und dazu auch noch blöd) sein?
Ziegler schielt zu Würsch hinüber, der jetzt wieder auf die Tischplatte trommelt. Aber er hat es doch mit eigenen Augen gesehen: Er hat die Speisekarte buchstabiert und den Finger zur Hilfe genommen. Und er hat gefragt: „Chile con Carne, ist das mit Fleisch?“ Könnte es sein, dass man ein Armleuchter (und dazu auch noch blöd) sein kann und trotzdem ein erfolgreicher Manager? Und was würde das in Bezug auf ihn selbst, der er ja, wenn auch nicht ganz auf diesem Level…?“
Ziegler ist froh, dass Doris kommt und er den Gedanken nicht zu Ende denken muss. Würsch erwähnt er nicht. Erst als dieser geht und klar wird, dass er niemanden erwartet hat, sondern nur den Tisch für sich alleine wollte, sagt Doris: „Was es doch für Armleuchter gibt!“