Werdbühlers Autorität
Werdbühler sitzt im Wohnzimmer und trinkt einen Whisky. Esther ist schon oben. ”Kommst du auch?” hatte sie nach der Spätausgabe gefragt. ”Gleich”, hatte er geantwortet. ”Aber reg dich nicht wieder auf”, hatte sie ihm noch von der Treppe aus zugerufen.
Er wird sich nicht aufregen. Falls ihm Luca keinen Grund dazu gibt. Selbst wenn er ihm einen gäbe: Es geht nicht um aufregen oder nicht. Es geht darum, dass sein Sohn lernt, dass dreiundzwanzig Uhr dreißig dreiundzwanzig Uhr dreißig heißt. Und NICHT dreiundzwanzig Uhr vierzig. Es geht um Luca, nicht um ihn. Oder nur insofern, als er als Vater den ganzen Teil seiner Aufgabe wahrnimmt. Nicht nur anordnet, sondern auch die Befolgung seiner Anordnungen prüft. Wie auch sonst im Management. Voilà.
Werdbühler zappt durch die Spätprogramme und nimmt einen Schluck. Bis jetzt ist ja alles o.k. Dreiundzwanzig Uhr null fünf. Noch fünfundzwanzig Minuten Zeit für Luca, etwas Reife zu zeigen. Werdbühler würde so tun, als wäre er zufällig noch auf. Eine Sendung, die ihn interessiert hatte. Er würde Lucas pünktliches Erscheinen mit keinem Wort erwähnen. Über Selbstverständlichkeiten verliert man keine Worte. Nicht in diesem Haus.
Werdbühler geht mit dem fast leeren Glas an die Hausbar und füllt etwas Whisky nach. Kein zweiter Drink, nur die Verlängerung des ersten auf ein gebräuchliches Maß. Er setzt sich wieder und schaltet durch Tierfilme, Nachrichtenmagazine, Wiederholungen und verstaubte Serien. Es wird dreiundzwanzig Uhr zwanzig.
Er macht das nicht jedes Mal. Nur sporadisch, stichprobenartig. Das Bürschchen soll wissen, dass er jederzeit damit zu rechnen hat, dass er noch auf ist. Er soll wissen, dass sein Wort gilt. Wenn er sagt dreiundzwanzig Uhr dreißig, dann IST es dreiundzwanzig Uhr dreißig.
Um dreiundzwanzig Uhr zweiunddreißig verlängert Werdbühler seinen Whisky auf einen etwas gut eingeschenkten. Zwei, drei Minuten liegen noch in der Toleranz einer schlecht abzulesenden Swatch. Obwohl man von einem Sechzehnjährigen soviel Weitblick erwarten darf, dass er ein paar Minuten Reserve einplant. Werdbühler wird sich nicht aufregen, er wird entspannt diesen sehr interessanten Film über die Brutgebiete des Pirols betrachten. Und wenn Luca eintrifft, ihm ganz ruhig die Sanktionen diktieren. Ausgehverbot für zwei, drei, vier Wochen, je nach Verspätung, mein Lieber!
Um Mitternacht entscheidet er sich ausnahmsweise für einen zweiten Whisky, diesmal von Anfang an richtig eingeschenkt. Kurz vor halb eins rundet er ihn noch einmal auf. Danach muss er kurz eingenickt sein.
Er erwacht von einem Geräusch und schlägt die Augen auf. Das Gestöhne stammt nicht von brütenden Pirolen, sondern von einem jungen Paar, das auf einem Billardtisch offenbar nach seinen Kleidern sucht. Neben dem Sofa steht Luca und sagt: ”Aber, aber Papi, geh du lieber ins Bett.”
Am nächsten Morgen bei der Wochensitzung kommt Kauter vier Minuten zu spät. ”Wenn ich sage acht Uhr dreißig”, brüllt Werdbühler, ”dann IST es acht Uhr dreißig!”.