Schreiber in der Weissen Rose
Dies war einst eine zweiteilige Kolumne. Aber wir wollen Sie nicht eine Woche auf die Folter spannen.
Die Weisse Rose ist nicht Schreibers Lokal. Dass er Neuhauser dorthin eingeladen hat, ist eine Folge seiner sorgfältigen Recherchen über dessen Gewohnheiten und Vorlieben. Demnach besitzt Neuhauser eine Schwäche für bürgerliche Restaurants mit großbürgerlichen Preisen. Sei’s drum, Schreiber ist jedes Mittel recht, Neuhauser zu beeindrucken.
Schreiber sitzt an Tisch vier und blättert in der Karte. Carrée de Veau oder gefüllte Kalbsbrust, eventuell das Pot-au-feu sind nach seinen Informationen die Wahl des Kenners. Und Flaschenweine gelten zu Mittag als etwas parvenu.
Jedesmal, wenn die Tür aufgeht, legt er die Karte beiseite. Er will nicht, dass ihn Neuhauser darin blättern sieht. Er hat vor, auswendig zu bestellen.
Neuhauser kommt mit fünfzehn Minuten Verspätung und übergeht diesen Umstand mit der Nonchalance des potentiellen Kunden. Er öffnet die Karte. Schreiber lässt seine liegen. „Sie haben schon gewählt?“ fragt Neuhauser.
„Ich nehme immer das Carrée“, antwortet Schreiber. „Aber die Kalbsbrust ist auch sehr schön.“
Neuhauser ist nicht einer, der ohne Weiteres auf die Empfehlung eines potenziellen Lieferanten eingeht. Position für Position studiert er das Angebot, bevor er sich für die Kalbsbrust entscheidet. Dann legt er die Karte beiseite und sagt: „Sieht man auch selten, heutzutage: Sorry, no credit cards.“
Schreiber muss Neuhauser etwas verständnislos angeblickt haben, denn der fühlt sich genötigt, die Karte noch einmal aufzuschlagen und ihm den Hinweis zu zeigen. „Nicht gewusst?“
„Ach so, das, doch, natürlich, klar“, antwortet Schreiber und überschlägt im Kopf seine Barschaft. Hundertdreißig, hundertvierzig, vielleicht, wenn er das Münz zählt. Könnte knapp reichen, wenn sie sich beim offenen Burgunder etwas zurückhalten.
„Ach“, ruft Neuhauser aus, ”so ein Zufall, die haben hier den neunundsiebziger Château Figeac! Kennen Sie ihn?“
Eine Viertelstunde später steht Schreiber vor dem Bancomaten um die Ecke. Er hat etwas von „Toilette“ gemurmelt und ist durch die Hintertür raus. Vor ihm studiert ein junger Mann kopfschüttelnd die letzten fünf Bewegungen auf seinem Konto. Immer wieder wirft er Schreiber einen misstrauischen Blick über die Schulter zu. Als der Automat die Karte des Mannes endlich ausspuckt, steckt er sie wieder rein und hebt feierlich hundert Franken ab.
Als Schreiber dann an der Reihe ist, hat er den Code vergessen. Blackout. Einfach weg.
„Code vergessen?“, fragt der Mann hinter ihm. Schreiber schüttelt den Kopf und tippt seine Kombination ein. „Falscher Code“ meldet der Automat.
„Vielleicht lassen Sie mich inzwischen“, sagt der Mann hinter ihm. „Bestimmt fällt er Ihnen in der Zwischenzeit wieder ein.“
Schreiber holt Luft und konzentriert sich. Und tatsächlich: der Code fällt ihm wieder ein. Er tippt die Kombination.
„Karte eingezogen“, meldet der Automat. „Vielen Dank für Ihren Besuch.“
Fortsetzung
Schreiber starrt noch immer auf den Schlitz, wo seine Bancomat-Karte verschwunden ist. „Kleiner Tipp“, sagt die Stimme des Mannes hinter ihm, „benutzen Sie eine Kreditkarte, wenn Sie über dem Limit sind, das wird nicht sofort belastet.“
„Ich bin aber nicht über dem Limit!“, verteidigt sich Schreiber. „Der Apparat spinnt.“
„Soll ich es einmal versuchen?“, sagt der Mann und steckt seine Karte ein.
In der Weissen Rose sitzt der potenzielle Kunde Neuhauser vor seiner Kalbsbrust und fragt sich, wo sein Gastgeber geblieben ist. Aber wenn Schreiber jetzt den Schauplatz verlässt, ohne das Resultat des Versuchs abzuwarten, fühlt sich der Mann hinter ihm in seinem Verdacht bestätigt, Schreiber habe sein Konto überzogen. Schreiber wartet also wie auf Kohlen, bis der Mann problemlos die demütigende Summe von viertausendfünfhundert Franken bezogen und nachgezählt hat und sich mit der Bemerkung entfernt: „Technisch scheint alles in Ordnung“.
Einen Moment erwägt Schreiber, sich von einem Auto anfahren und leicht verletzen zu lassen. Das wäre ein guter Grund, nicht mehr in die Weisse Rose zurückzukommen. Aber er verwirft den Plan sofort wieder. Wie würde er den Umstand erklären, dass er das Lokal verlassen hat?
Ganz ruhig. Er wird jetzt zurückgehen und sagen: „Ich hatte vergessen, dass die hier keine Kreditkarten nehmen und wollte etwas Geld aus dem Bancomaten holen und jetzt hat es mir die Karte eingezogen, weil ich den Code nicht mehr wusste.“
Prima Geschichte für einen, der einen potenziellen Kunden beeindrucken will.
Ein paar Schritte von der Weissen Rose entfernt hat Schreiber die rettende Idee. Wozu hat er ein Handy? Er wird jetzt seine Sekretärin anrufen, sie solle sich mit einem Kuvert mit tausend Franken in ein Taxi setzen. Dass er nicht gleich darauf gekommen ist.
Er lässt es auf der Direktnummer seiner Sekretärin klingeln, bis das Besetztzeichen ertönt. Dann versucht er es bei Otter, dann bei Bürkli. Der meldet sich mit „Schatz?“ Es klingt, als mampfe er seinen Mittagstofuburger.
Bürkli hat Schreibers Sekretärin vor fünf Minuten im Personalrestaurant gesehen. Er wird nachsehen, ob sie noch dort ist. Soll sie zurückrufen? Nein, antwortet Schreiber, er werde warten.
Und während er wartet, überlegt er, was er Neuhauser erzählen wird, damit dieser nicht glaubt, er hätte die ganze Zeit auf der Toilette zugebracht.
Er erfindet und verwirft vier Geschichten, bis sich seine Sekretärin endlich meldet. Er erklärt ihr die Situation und geht eleichtert an den Tisch zurück. Dem irritierten Neuhauser erzählt er, dass auf dem Weg zurück von der Toilette sein Handy geklingelt habe. Ein Kunde mit einem Problem. „Das ist nun mal der Nachteil, wenn man nach dem Motto lebt: Kundenprobleme sind Chefsache.“
Schreiber lehnt sich zurück, stolz darauf, wie er aus einer Ausrede ein Verkaufsargument gemacht hat. Da sagt die Stimme des Mannes hinter ihm: „Ach, hat’s also doch noch geklappt am Bancomat.“
22. und 29.6.2000