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Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Die Schublade des Schreckens

Pflugers Bü­ro sieht aus wie ein Mus­ter­zim­mer in ei­ner Bü­ro­mö­bel­aus­stel­lung. Nichts deu­tet dar­auf hin, dass dar­in ein mensch­li­ches We­sen ar­bei­tet, au­ßer zwei­mal täg­lich ei­ne Reinigungskraft.

Aber die­ser Ein­druck täuscht. In Pflugers Bü­ro wird sehr wohl ge­ar­bei­tet. Und zwar län­ger als in den meis­ten an­de­ren Bü­ros der Ab­tei­lung. Und zwar durch Pfluger selbst.

Da­bei ist Pfluger kein ord­nungs­lie­ben­der Mensch. Das Bild, das sein Bü­ro bie­tet, ist nicht auf sei­ne Ord­nungs­lie­be zu­rück­zu­füh­ren, son­dern auf sei­nen Un­ord­nungs­hass. Das ist ein gro­ßer Un­ter­schied. Die Din­ge ver­su­chen sich da­durch in sein Be­wusst­sein zu drän­gen, dass sie nicht an ih­rem Platz sind. Und sol­che Din­ge sind pendent. 

Pfluger hasst Pen­den­zen. Sie sind die Ver­kör­pe­rung der Un­ord­nung schlecht­hin. Sie müs­sen weg, weg, weg. Das ist es, was Pfluger treibt. Da­mit ver­bringt er sei­ne Stun­den und Überstunden.

Wenn nun je­mand denkt, Pfluger schaf­fe Ord­nung, in­dem er Un­ord­nung be­sei­tigt, kommt ihm das na­tür­lich sehr ge­le­gen. Nur: es ent­spricht nicht der Wahr­heit. Denn er be­sei­tigt die Pen­den­zen nicht da­durch, dass er sie er­le­digt. Er be­sei­tigt sie da­durch, dass er sie aus sei­nem Ge­sichts­feld ent­fernt. Na­tür­lich nicht al­le. Ge­wis­se ein­fa­che Din­ge über­nimmt er sel­ber, ge­wis­se schwie­ri­ge­re de­le­giert er. Aber die heik­len Sa­chen, die, die nur er er­le­di­gen kann, lan­den in der Schub­la­de des Schreckens.

Die­se be­fin­det sich im rech­ten Kor­pus über der Hän­ge­re­gis­tra­tur und ist mit ei­nem Schloss ver­se­hen, zu dem er den ein­zi­gen Schlüs­sel be­sitzt. (Den an­dern hat er vor Jah­ren bei ei­ner Bau­stel­le in der Nä­he des Bü­ros in ei­nen klei­nen Be­ton­mi­scher geworfen.)

An­ge­nom­men, es lan­det ein Be­schwer­de­brief ei­nes Kun­den auf sei­nem Pult: Der liegt dann dort, ei­ne Stun­de oder zwei, je nach Pflugers Aus­las­tung, und stört das Ge­samt­bild. Wenn er es nicht län­ger aus­hält, rich­tet ihn Pfluger nach der Tisch­kan­te aus. Aber für sein ge­üb­tes Au­ge hebt sich das ge­bro­che­ne Weiß des Um­schlags nach kur­zer Zeit scharf vom un­ge­bro­che­nen der Tisch­plat­te ab. Er schiebt den Brief al­so hin­ter den Bild­schirm und lässt ihn dort, bis er das Pult für die Nacht auf­räumt. Dann nimmt er den Schlüs­sel­bund und öff­net die Schub­la­de des Schre­ckens. Ein kur­zer Blick sagt ihm, dass die ne­ga­ti­ven Test­re­sul­ta­te des M37, die Kün­di­gung von Geiss­büh­ler, die Quar­tals­bi­lanz, die Be­wer­bung Schal­ler und die Ab­sa­ge Wis­ler im­mer noch dort liegen.

Er nimmt den Be­schwer­de­brief mit spit­zen Fin­gern, lässt ihn in die Schub­la­de fal­len, schlägt sie zu und dreht den Schlüs­sel zwei­mal um.

Wenn nicht vor­her et­was Neu­es ein­trifft, das dort­hin ge­hört, lässt er et­wa zwei Wo­chen lang die Fin­ger von der Schub­la­de. Nach die­ser Frist fängt er an, mit der Mög­lich­keit zu rech­nen, dass sich ihr In­halt in Luft aus­ge­löst hat. Er gibt sich zur Si­cher­heit noch ei­ne Wo­che. Dann öff­net er sie ganz vor­sich­tig ei­nen klei­nen Spalt. Und noch ei­nen und noch einen.

Und falls da noch et­was drin sein soll­te, schlägt er sie so­fort wie­der zu.

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