Die Schublade des Schreckens
Pflugers Büro sieht aus wie ein Musterzimmer in einer Büromöbelausstellung. Nichts deutet darauf hin, dass darin ein menschliches Wesen arbeitet, außer zweimal täglich eine Reinigungskraft.
Aber dieser Eindruck täuscht. In Pflugers Büro wird sehr wohl gearbeitet. Und zwar länger als in den meisten anderen Büros der Abteilung. Und zwar durch Pfluger selbst.
Dabei ist Pfluger kein ordnungsliebender Mensch. Das Bild, das sein Büro bietet, ist nicht auf seine Ordnungsliebe zurückzuführen, sondern auf seinen Unordnungshass. Das ist ein großer Unterschied. Die Dinge versuchen sich dadurch in sein Bewusstsein zu drängen, dass sie nicht an ihrem Platz sind. Und solche Dinge sind pendent.
Pfluger hasst Pendenzen. Sie sind die Verkörperung der Unordnung schlechthin. Sie müssen weg, weg, weg. Das ist es, was Pfluger treibt. Damit verbringt er seine Stunden und Überstunden.
Wenn nun jemand denkt, Pfluger schaffe Ordnung, indem er Unordnung beseitigt, kommt ihm das natürlich sehr gelegen. Nur: es entspricht nicht der Wahrheit. Denn er beseitigt die Pendenzen nicht dadurch, dass er sie erledigt. Er beseitigt sie dadurch, dass er sie aus seinem Gesichtsfeld entfernt. Natürlich nicht alle. Gewisse einfache Dinge übernimmt er selber, gewisse schwierigere delegiert er. Aber die heiklen Sachen, die, die nur er erledigen kann, landen in der Schublade des Schreckens.
Diese befindet sich im rechten Korpus über der Hängeregistratur und ist mit einem Schloss versehen, zu dem er den einzigen Schlüssel besitzt. (Den andern hat er vor Jahren bei einer Baustelle in der Nähe des Büros in einen kleinen Betonmischer geworfen.)
Angenommen, es landet ein Beschwerdebrief eines Kunden auf seinem Pult: Der liegt dann dort, eine Stunde oder zwei, je nach Pflugers Auslastung, und stört das Gesamtbild. Wenn er es nicht länger aushält, richtet ihn Pfluger nach der Tischkante aus. Aber für sein geübtes Auge hebt sich das gebrochene Weiß des Umschlags nach kurzer Zeit scharf vom ungebrochenen der Tischplatte ab. Er schiebt den Brief also hinter den Bildschirm und lässt ihn dort, bis er das Pult für die Nacht aufräumt. Dann nimmt er den Schlüsselbund und öffnet die Schublade des Schreckens. Ein kurzer Blick sagt ihm, dass die negativen Testresultate des M37, die Kündigung von Geissbühler, die Quartalsbilanz, die Bewerbung Schaller und die Absage Wisler immer noch dort liegen.
Er nimmt den Beschwerdebrief mit spitzen Fingern, lässt ihn in die Schublade fallen, schlägt sie zu und dreht den Schlüssel zweimal um.
Wenn nicht vorher etwas Neues eintrifft, das dorthin gehört, lässt er etwa zwei Wochen lang die Finger von der Schublade. Nach dieser Frist fängt er an, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sich ihr Inhalt in Luft ausgelöst hat. Er gibt sich zur Sicherheit noch eine Woche. Dann öffnet er sie ganz vorsichtig einen kleinen Spalt. Und noch einen und noch einen.
Und falls da noch etwas drin sein sollte, schlägt er sie sofort wieder zu.