27.6.00 Wie sag’ ich es Anita
Decker kommt ins Wohnzimmer zurück und setzt sich neben Anita aufs Sofa.
„Kann Ian lesen?“, fragt er nach einer Weile.
„Wie kommst du darauf? Ian ist fünf.“
„Er hat mich gebeten, Licht zu lassen. Er wolle noch lesen.“
„Er nennt es lesen.“
„Ach so.“
Anita zappt durch die Programme. Decker schenkt die beiden Rotweingläser voll. „Schöner Vater“, sagt er, „der nicht einmal weiß, ob sein Jüngster lesen kann.“
„Das kannst du laut sagen“, antwortet Anita, überrascht, dass er es ist, der davon anfängt. Das ist sonst ihr Thema. „Kürzlich hat er mich gefragt, warum er dich nie besuchen darf, wie der Christoph seinen Papi. Christophs Eltern sind geschieden.“
Decker ist die Anekdote nicht neu. Aber er erwähnt es nicht. Das Gespräch läuft in die richtige Richtung. Er schüttelt den Kopf und seufzt. „Du hast schon recht, es lässt sich kaum vereinbaren: Karriere und Familie.“
„Wem sagst du das?“, antwortet Anita und zappt weiter.
Decker nimmt einen Schluck Wein und vergisst das Glas in der Hand. „Weißt du, wie lang es her ist, dass ich die Kinder an einem Wochentag wach angetroffen habe?“
„Fünf Wochen. An dem Tag, als du Grippe hattest.“
„Das ist doch nicht normal, so etwas.“
„In deinen Kreisen offenbar schon.“
„In meinen Kreisen!“ stößt Decker verächtlich aus.
Das sind neue Töne für Anita. Sie schaltet den Fernseher ab und nimmt auch einen Schluck Wein. „Alles o.k.?“
„Alles o.k“, bestätigt Decker tapfer. „Es ist nur – manchmal fragt man sich: wozu das alles? Was nützt einem die Karriere, wenn die Familie darunter leidet?“
Anita braucht nicht zu antworten. Der Satz ist wörtlich aus ihrem Repertoire übernommen.
„Weißt du, was ich wieder einmal möchte?“ fährt Decker nach einer Pause fort. „Drei Wochen ans Meer. Baden, schlafen, essen, lesen, mit der Kindern herumtollen, und so weiter.“
Bei „und so weiter“ legt Decker den Arm um Anita. „Ich dachte, drei Wochen am Stück liegen nicht drin?“ wundert sie sich.
Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem Decker Anita beibringen wird, dass ihm Sager heute eröffnet hat, dass er, Decker, das Synergieopfer ist, das die Regionen-Zusammenlegung in der Regionalverwaltung Ost fordern wird. Er wird es natürlich nicht so formulieren. Er wird sagen, dass die Regionalrestrukturierung ihm endlich die Chance bietet, einen Marschhalt einzulegen und sich neu zu orientieren. Spät, aber wie er hoffe, nicht zu spät, habe er die Notbremse gezogen und die Voraussetzungen geschaffen, die es ihm erlauben, die Prioritäten neu zu setzen.
„Anita, ich habe eine wunderbare Nachricht für uns alle“, hätte sein erster Satz gelautet.
Aber Anita kommt ihm zuvor: „Sag bitte nicht, die haben dich rausgeschmissen!“