Martin Suter als Drehbuchautor

Martin Suter und Daniel Schmid lernten sich zu Beginn der Achtziger kennen. Suter schrieb als Ghostwriter das Buch „Die Erfindung vom Paradies“, eine als Spektakel inszenierte Geschichte der Entdeckung der Schweiz für den Tourismus. Schmid und Suter wurden Freunde und arbeiteten von nun an zusammen.
Ihre nächste gemeinsame Arbeit war der Film „Jenatsch“. Er war gedacht als Historienverfilmung des Lebens des Bündner Volkshelden. Beide taten sich etwas schwer mit dem Stoff. Bei einem Arbeitsbesuch von Suter in Genf, Daniel Schmid inszenierte dort an der Oper gerade „Blaubart“, gerieten sie am Abend in der Altstadt in ein Volksfest, das sich „Fête de l’Escalade“ nennt und die erfolgreiche Verteidigung der Stadt gegen die Savoyer feiert. Plötzlich waren sie umgeben von Menschen in der Kleidung aus dem 17. Jahrhundert, der Zeit, in welcher Jörg Jenatsch lebte. Diese gespenstische Situation brachte sie auf die Idee, aus dem Film eine Geschichte zu machen von einem Journalisten, der das Leben von Jenatsch recherchiert und dabei immer tiefer in dessen Zeit gerät.
Bis jetzt hat die Redaktion von martin-suter.com keinen Trailer des Films gefunden, den sie hier zeigen könnte. Aber die Suche läuft noch.
Daniel Schmid hat später noch weitere Filme nach Drehbüchern von Martin Suter gedreht, „Zwischensaison“ (1992),
die Geschichte eines Mannes, der im Hotel, wo er aufgewachsen war, Episoden seiner Kindheit noch einmal durchlebt, und „Beresina“ (1999), die Geschichte einer naiven Russin, die in der Schweiz zum Callgirl gemacht wird und unbeabsichtigt das ganze Land auf den Kopf stellt.
Als Daniel Schmid 1988 der Kunstpreis der Stadt Zürich verliehen wurde, hielt Martin Suter die Laudatio. Noch lange warf Schmid seinem Laudator scherzhaft vor, er hätte mehr Glückwünsche zur Laudatio bekommen als zum Kunstpreis.
Urteilen Sie selbst:
Herr Stadtpräsident, sehr verehrte Damen und Herren, lieber Daniel
Die Stadt Zürich hat keine Mühe und Kosten gescheut, um Ihnen ihren diesjährigen Kunstpreisträger etwas fassbarer zu machen. Sie hat in seiner unübersichtlichen Biographie gestöbert und ist schliesslich auf mich gestossen, weil unsere gemeinsamen Jugenderinnerungen nicht durch eine gemeinsame Jugend belastet sind.
Dank diesem Sachverhalt bin ich in der Lage, Ihnen ein authentisches Bild des Preisträgers zu liefern. Ein Bild, das seine Authentiztät nicht dem Umstand verdankt, dass die biographischen Details wahr sind, sondern dem, dass sie stimmen.
Eine Unterscheidung, die ich von Daniel Schmid gelernt habe. Wie so manches andere auch.
Wir haben ja alle etwas von Daniel Schmid gelernt. Und sei es nur, die Welt durch seine Augen zu betrachten. Er hat sich das ja zur Aufgabe gemacht: uns die Welt durch seine Augen sehen zu lassen. Ich will Ihnen erzählen, wie es dazu kam:
Im Jahre 1954 – auch das habe ich von ihm gelernt: verwende stets Jahreszahlen. Sie müssen nicht richtig sein, aber sie machen die Geschichte authentischer – im Jahre 1954 also, ein paar Jahre nachdem Daniel Schmid als Kind eines verarmten russischen Grossfürsten und eines Puschlaver Zimmermädchens geboren, in der zweitobersten Schublade einer Waschkommode in der Turmsuite des Hotel Schweizerhof in Flims Waldhaus ausgesetzt und vom Hotelier-Paar adoptiert worden war, nahm ihn ein Stammgast des Hotels, Erich von Stroheim (1885 bis 1957), mit nach Chur ins Kino.
Ihr Pferdeschlitten war unterwegs immer wieder von einem Rudel Wölfe aufgehalten worden, und so hatte der Film schon begonnen, als sie das Kino erreichten. Sie gaben ihre schneeverkrusteten Mäntel ab und folgten dem Lichtkegel der Taschenlampe des Platzanweisers zu ihren Plätzen.
Für den kleinen Daniel war es der erste Kinobesuch. Fasziniert beobachtete er, wie der Platzanweiser immer wieder hinter dem Vorhang des Eingangs erschien, nach Gutdünken in der Dunkelheit des Kinos da und dort einen Hinterkopf aufscheinen und wieder verschwinden liess und Spätankömmlinge mit seinem Lichtkegel zu den Plätzen seiner Wahl steuerte.
Dem Film selbst schenkte Daniel keine Beachtung.
Von da an stand sein Berufsziel fest. Er wollte dereinst auch derjenige sein, der unsere Augen mit seinem Lichtkegel an die Stellen lenkt, die er für sehenswert hält, und uns mit seinem Licht an die Plätze führt, die er uns zugedacht hat. Er beschloss, Kino-Platzanweiser zu werden.
Meine Damen und Herren, auf die heute das Licht von Daniel Schmid gefallen ist, auf dass wir es auf ihn zurückreflektieren: Ohne „SOS Gletscherpilot“ (1959) wäre Daniel Schmid wahrscheinlich Kino-Platzanweiser geworden.
Er sah den Film zum ersten mal anlässlich einer Vorführung in der Turnhalle des gemischten Turnvereins Bonaduz und erkannte, dass die Möglichkeiten des Filmregisseurs über diejenigen des Kinoplatzanweisers weit hinausgehen. Während dieser lediglich unsere Sichtweise auf die wirkliche Welt durch seine Lichtführung beeinflussen kann, hat jener die Möglichkeit, eine Welt zu schaffen, die mit der wirklichen nichts zu tun hat. Daniel Schmid konnte das beurteilen, er war in der wirklichen Gletscherwelt aufgewachsen. Und er stand damals kurz vor seiner Erfindung „Skifahren in Blue Jeans“.
Wie ich sehe ist nicht allen Anwesenden bewusst, dass es sich beim Preisträger des diesjährigen Kunstpreises der Stadt Zürich gleichzeitig um den Erfinder von „Skifahren in Blue Jeans“ handelt, einer Erfindung, unter der die Sportbekleidungsindustrie bis in die späten Achtzigerjahre gelitten hat. Ich erwähne das, weil die Schaffung solcher Trends im Gesamtzusammenhang mit dem Willen des Preisträgers, die Welt nach seinem Gusto zu gestalten, verstanden werden muss. In diesem Kontext muss auch erwähnt werden, dass Daniel Schmid bereits 1972 ein gepierctes Ohrläppchen besass. Ein Umstand, auf den mich während meiner Recherchen zum heutigen Abend Geraldine Chaplin aufmerksam gemacht hat, die sich für heute Abend allerdings entschuldigen lässt.
Ebenfalls entschuldigen lässt sich der frühere Preisträger Urs Widmer. Er hat mich aber ermächtigt, Ihnen allen seine Grüsse und Daniel Schmid seine Glückwünsche zu übermitteln.
Aber zurück zu „SOS Gletscherpilot“. Beim Verlassen der Turnhalle des gemischten Turnvereins Bonaduz, es war eine sternklare, stille Winternacht, nur das Gurgeln des Wassers im vereisten Dorfbrunnen, beschloss der junge Daniel, die Welt nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Er wurde Regisseur.
Und weil es in seinen Augen keinen Unterschied gibt zwischen seiner und der wirklichen Welt, leben wir seither alle in der Welt des Daniel Schmid. Versuche, aus ihr auszubrechen – das wissen wir – sind zwecklos.
Wir alle hatten ja ursprünglich für heute abend etwas anderes vor – Essen in einem verschwiegenen Lokal mit der Frau des Lebens eines andern; Entwurf des Romans, der das Jahrtausend mit einem Donnerschlag beenden wird; Durchbruch bei den Verhandlungen um die endgültige Fusion; heimlicher Besuch eines Films eines andern Regisseurs, früh zu Bett. Trotzdem sind wir gekommen. Einmal abgesehen von Geraldine Chaplin, der Daniel für heute Abend konzentriertes Rollenstudium für die Dreharbeiten zu seinem nächsten Film verordnet hat. Und Urs Widmer, der durch Landesabwesenheit verhindert ist: Er weilt heute abend im Elsass.
Aber wir andern sind hier. Spielen die Rolle, die er uns zugedacht hat – der Regierungsvertreter, der Bruder, die Schwägerin, ein Neffe, eine gute Freundin, ein guter Freund, ein falscher Freund, ein Freund von Freunden, ein Kollege, ein Neider, eine Bewundererin, ein Journalist, ein Festredner.
Und alle geben wir uns Mühe, die Rolle auszufüllen. Denn wer will schon umbesetzt und hinausgestossen werden in die andere Welt, wo das Licht hart ist und kein Ende offen?
Ich jedenfalls nicht. Denn – und was jetzt folgt stimmt nicht nur, sondern ist auch wahr – für die, die in seiner Welt eine Rolle spielen, zögert Daniel keine Sekunde, seinerseits die Rolle zu spielen, die wir ihm in unserer Welt zugedacht haben. In meinem Fall zum Beispiel die eines treuen und zuverlässigen Freundes.
Sehr verehrte Besetzung der Welt des Daniel Schmid
Obwohl ich weiss, dass Daniel Regieanweisungen des Drehbuchautors hasst, glaube ich, es wäre in seinem Sinn, wenn wir an dieser Stelle den Entscheid der Stadt Zürich, ihren diesjährigen Kunstpreis einem Mann zu verleihen, der seine Aufgabe darin sieht, uns die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit ein wenig unscharf zu halten, mit einem herzlichen Applaus belohnten.
Von mir aus darf er auch ruhig ein wenig ausarten.
Ich danke Ihnen.