Zingg übt schneller schalten
Die ersten Business Class Kolumnen bezogen sich oft auf Werke der aktuellen Management Literatur. Diese hier auf Tom Wujec, „Schneller schalten als andere“, Ariston Genf/München.
Als Zingg das Buch im Regal sah, wusste er sofort, dass es das Richtige war. Er wollte nämlich gar nicht mehr Macht oder mehr Geld oder einen anderen Titel, oder einen Porsche 968 Cabrio. Was er wirklich wollte, war genau das: geistige Überlegenheit. Damit kann man das alles bekommen oder sich darüber hinwegtrösten, falls nicht. Er ließ also leichten Herzens die 35 Franken liegen und nahm sich vor, die 256 Seiten ganz seriös durchzuackern.
Seither sind ein paar Wochen vergangen, in denen Zingg unter den verschiedensten Symptomen hierarchischer Unterlegenheit zu leiden hatte, und Brigit ist mit den Kindern für ein paar Tage bei ihrer Mutter, und es ist Samstag, und draussen regnet es, und Brigit hat den Bestseller mitgenommen, den er gerade liest. Zingg nimmt also das Buch aus dem Aktenköfferchen, wo er es wegen seines kompromittierenden Titels (er klingt wie das Eingeständnis, dass er von Natur aus nicht schneller schaltet als andere) aufbewahrt und macht sich an die Arbeit. Vom spielerischen Denken zur geistigen Überlegenheit.
Zingg merkt schnell (schneller als andere?), dass das Ganze viel mit Konzentration zu tun hat. Und gerade das macht ihm ausgerechnet der Mann schwer, der es ihm beibringen will: der Autor. „Da stehen Sie nun: Einen Kopf wie eine Schüssel Vanillepudding“ schreibt er zum Beispiel gleich zu Anfang. Es ist nicht so, dass sich Zingg nicht eine Schüssel voll Vanillepudding vorstellen kann. Im Gegenteil: Die Vorstellung will ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er gehört zu den wenigen Menschen, die schon als Kind Vanillepudding nicht ausstehen konnten. Im Vanillepudding, der in Zinggs Kopf wackelt, hat sich ein einziger Gedanke festgebissen: Landjäger. Zingg, der sich eigentlich gemäss Tom Wujek jetzt vorstellen sollte, er halte eine Orange in der Hand und sich ausmalen müsste, wie sie sich anfühlen, aussehen, riechen würde, kriegt den Landjäger nicht mehr aus seinem Vanillepudding. Es bleibt ihm nichts übrig als im Kühlschrank nachzusehen, und als er dort nichts auch nur annähernd Vergleichbares findet, den Wagen aus der Garage zu holen und in der nächsten Autobahnraststätte ein Paar Landjäger zu kaufen, denn die Läden sind zu. Erst als er die erste Wurst schon im Auto gierig in sich hineingestopft hat und die zweite kultiviert mit einem Glas Bier (gehört zum Landjäger wie, wie, ja wie? Das metaphorische Training kommt erst in der elften Station) zu sich genommen hat, wird er den Vanillepudding los. Aber nun ist er erst recht nicht mehr bei der Sache. Das Bier hat zwar die Konzentrationsfähigkeit in keiner Weise beeinträchtigt. Aber auf die Konzentrationswilligkeit hat es einen verheerenden Einfluss ausgeübt. Zingg holt sich also noch eines und blättert das Buch spielerisch (steht ja im Untertitel) durch. In der zehnten Station bleibt er hängen. Dort hat er nämlich drei Wünsche frei: Entweder fünf Jahre länger leben, die einem Menschen nach seiner Wahl abgezogen werden. Oder 50’000 Franken bekommen, wenn er sich eine Tätowierung von der Grösse eines Geldscheines macht. Oder eine neue Fähigkeit nach freier Wahl.
Fast vier Bier lang arbeitet Zingg an der Liste der Menschen, denen er gerne fünf Lebensjahre klauen möchte und kommt schliesslich auf dreissig Namen à je zwei Monate. Erst beim fünften Bier schaltet er und wünscht sich natürlich – die Fähigkeit, schneller zu schalten. Prima Buch.
Einmal erschienen am 19.8.1993