Die Überlegenheit des Oft-Fliegers

„Fah­ren wir zu­sam­men zum Flug­ha­fen oder tref­fen wir uns in der Lounge?“, fragt Stol­ler. Ehr­li­cher ver­beißt sich ein Lä­cheln. Wie der bei­läu­fig tut, denkt er, da­bei flippt der fast aus vor Auf­re­gung. Er schaut zer­streut von sei­nem Pa­pier auf. „Wie­so Flug­ha­fen? – Ach ja, Os­lo, auch das noch, muss ich ver­drängt ha­ben.“ Er stützt den rech­ten Arm auf, er­greift den Bü­gel sei­ner Bril­le, nimmt sie ab, starrt ei­nen Au­gen­blick auf ih­re Glä­ser und lässt dann das Hand­ge­lenk ein­kni­cken. Die Bril­le bau­melt in der schlaf­fen Hand wie das La­den­schild ei­nes Op­ti­kers in ei­ner Geisterstadt.

Stol­ler war­tet höf­lich in der Tür, bis sich Ehr­li­cher voll­ends her­aus­ge­ris­sen hat aus dem Netz gro­ßer Zu­sam­men­hän­ge, in das er eben noch ver­strickt ge­we­sen war. End­lich sagt der: „Di­rekt am Gate, würd ich doch sagen.“

Stol­ler gibt sich mit die­ser Ant­wort zu­frie­den. Aber Ehr­li­cher ent­geht das kur­ze Zö­gern nicht, der Mo­ment der Pa­nik des Nicht-Oft-Flie­gers bei der Vor­stel­lung, sich ganz al­lein auf dem gro­ßen Flug­ha­fen zu­recht­fin­den zu müssen. 

Als Stol­ler ge­gan­gen ist, gönnt sich Ehr­li­cher ein Grin­sen. Er hat den Kerl von An­fang an nicht ge­mocht. Zu vie­le Vor­schuss­lor­bee­ren, zu kar­rie­re­geil, zu jung.

Nach dem Lunch geht er ab­sicht­lich noch ein­mal ins Bü­ro. Ab­flug fünf­zehn Uhr, wenn er zwan­zig vor ein­checkt, reicht das. Busi­ness-Class, nur Hand­ge­päck. Soll der Klei­ne ru­hig et­was zappeln.

Aber Stol­ler ist auch noch ein­mal ins Bü­ro ge­kom­men. An­statt auf­ge­regt in der Lounge hin­ter der Fi­nan­cial Times sitzt er be­tont läs­sig vor ei­ner Co­la an sei­nem Pult, als Ehr­li­cher um halb zwei im Vor­bei­ge­hen ei­nen Blick in des­sen Bü­ro wirft. Will wohl her­aus­fin­den, wer die bes­se­ren Ner­ven hat. Kann er haben.

Vor zwei ruft Ehr­li­cher den Emp­fang an. „Ach, Frau Roth, ist Stol­ler schon zum Flug­ha­fen?“, fragt er ganz nebenher.

„Nein, er spricht gerade.“

„Ge­ben Sie mir doch Be­scheid, wenn er ein Ta­xi be­stellt“, bit­tet Ehr­li­cher. Er legt auf und lä­chelt grimmig. 

Lang­sam ver­strei­chen die Mi­nu­ten. Um zehn nach zwei ist er ver­sucht, Frau Roth noch ein­mal an­zu­ru­fen und zu fra­gen, ob Stol­ler noch kein Ta­xi be­stellt hat. Statt­des­sen schlen­dert er in Hemds­är­meln in ei­ne Ak­ten­no­tiz ver­tieft durch den Gang. Durch die halb of­fe­ne Bü­ro­tür sieht er Stol­ler te­le­fo­nie­ren. Auch Hemds­är­mel plus Fü­ße auf dem Tisch. Als der ihn vor­bei­ge­hen sieht, winkt er ihm läs­sig zu. Ehr­li­cher winkt zu­rück, noch lässiger.

Ehr­li­cher än­dert die Tak­tik. Er be­stellt ein Ta­xi auf fünf vor halb und fla­niert noch ein paar­mal an Stol­lers Bü­ro vor­bei. Dann holt er Kit­tel und Hand­ge­päck, rennt zum Lift, fährt hin­un­ter und steigt ins war­ten­de Taxi. 

Zehn Mi­nu­ten vor dem Start kommt Ehr­li­cher ver­schwitzt am Check-in an. „Komm ich noch drauf?“, japst er. 

Die jun­ge Frau blät­tert im Ti­cket und nickt. „Das schaf­fen wir, Herr Ehr­li­cher“, schmun­zelt sie und über­reicht ihm die Ein­stiegs­kar­te. „Und ge­nies­sen Sie un­se­re Business-Lounge.“

Fünf Uhr fliegt die Ma­schi­ne. Nicht fünf­zehn Uhr.

Nur ein­mal ver­öf­fent­licht am 24.7.97

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