Ochsenbein kann nichts dafür
Ochsenbein kommt am Morgen ins Büro, was heisst kommt: schleppt, nötigt, zwingt, tretet, prügelt, schleift sich ins Büro, und wehe es kommt ihm jemand in die Quere.
Was heisst in die Quere: wehe es rettet sich jemand nicht rechtzeitig aus seinem Umfeld, Sichtfeld, Hörfeld, Riechfeld, verduftet, verdampft, verzischt, verdünnisiert sich nicht und stinkt nicht ab.
Allein die Vorstellung, er teile den Planeten mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, Viren, Bazillen, Zellen, Molekülen, Atomen, bereitet ihm eine körperliche Übelkeit, die er unverhohlen zur Schau trägt.
Auch untertrieben. Auf Kilometer sichtbar, spürbar, greifbar. Ochsenbeins Gesichtsausdruck am Morgen ist der eines strengen Vegetariers, der gezwungen wird, Blutwurst, Presskopf und Kutteln zu frühstücken. Und für Ochsenbein sollte man noch hinzufügen: Ohne Kaffee.
Das wäre überhaupt das Schlimmste für Ochsenbein: Ohne Kaffee. Was immer. Denn er ist ohne Kaffee am Morgen überhaupt kein Mensch. „Ohne Kaffee am Morgen bin ich überhaupt kein Mensch“, pflegt er zu sagen, wenn er wieder spricht. Wenn er es nicht nur schafft, nach dem dritten Kaffee zur Kenntnis zu nehmen, dass es Mitmenschen gibt, sondern es über sich bringt, wenn auch nicht gerade das Wort an sie zu richten, so doch zu antworten, ohne sie gleich anzuspeien.
Aber dafür braucht er ein paar Stunden ungezügelten Hasses auf alle und alles. Auch auf Gegenstände: Feuerlöscher in der Tiefgarage. Klappbare Aschenbecher im Lift. Herrentoilettentüren. Kleiderbügel. Luftbefeuchter.
Bevor Ochsenbein nicht mindestens drei, vier des Verbrechens der Existenz Überführte angeschaut hat, als hätte sie Stephen King erfunden und Bernhard Giger entworfen hätte, ist mit Ochsenbein nicht zu rechnen.
Was ist nun Ochsenbein. Ein Rüpel? Ein Flegel? Einfach ein Arschloch?
Selbstverständlich nichts von alledem. Ochsenbein ist ein Morgenmuffel.
Was haben Sie denn gedacht? Ochsenbein würde feindselig und gehässig und widerlich und respektlos zu seinen Kollegen sein, wenn er kein Morgenmuffel wäre? Ochsenbein würde seine Untergebenen spüren lassen, wie abgrundtief sie ihn ankotzen, wenn er nicht von diesem schweren Leiden heimgesucht würde?
Doch nicht Ochsenbein! Ochsi, der liebste Kerl schon am späten Vormittag. Beinli, den bereits am späten Nachmittag kein Wässerchen trüben kann.
Ochsenbein kann nichts dafür. Das ist nicht persönlich. Das ist gegen alle. Er braucht unser Verständnis.
Wissen wir denn, wie es in ihm drin aussieht? Spüren wir denn diesen Degout in UNS hochwürgen, wenn er uns zur Kenntnis nehmen muss? Seien wir doch froh, dass wir das nicht haben, tragen wir es ihm doch nicht noch nach, dass er damit geschlagen ist. Wir werfen dem Parkinson-Patienten ja auch nicht vor, dass er den Tee verschüttet.
Und vergessen wir nicht: Morgenmuffel ist eine Krankheit von hoher gesellschaftlicher Akzeptanz. Sie ist weitverbreitet und die von ihr Betroffenen sind gut organisiert. Sie sprechen darüber. Sie ermutigen sich darin. Sie verharmlosen die Symptome und stempeln alle, denen in den ersten Morgenstunden beim Anblick der Welt und ihrer Bewohner nicht speiübel wird, zu morgenfröhlichen Idioten.
Also legen wir uns nicht an mit Ochsenbein. Meiden wir ihn. Verhalten wir uns still. Lösen wir uns in Luft auf. Besänftigen wir ihn. Bringen wir ihm seinen Kaffee.
Und schütten ihn ihm über die Hose.
Nur einmal erschienen am 9.5.96