Müller fühlt sich ein

Es ist nicht leicht, ei­nen Ter­min bei Mül­ler zu be­kom­men, ins­be­son­de­re nicht, wenn die hier­ar­chi­sche Dis­kre­panz zu ihm so gross ist wie bei Trüm­py: Vier Be­för­de­rungs­stu­fen. Aber Trüm­py hat es ge­schafft dank sei­ner gu­ten Be­zie­hun­gen zu Eli­sa­beth Aepp­li, Mül­lers Se­kre­tä­rin, de­ren Toch­ter den glei­chen Ta­ges­kin­der­gar­ten be­sucht wie Trüm­pys Toch­ter. Eli­sa­beth Aepp­li, zu de­ren Auf­ga­ben es ge­hört, den Puls der Ba­sis zu füh­len, hat Mül­ler im Rah­men der mo­nat­li­chen Be­richt­erstat­tung über „die Stim­mung im La­den“ na­he­ge­legt, et­was für die Ba­sis­nä­he zu tun und Trüm­py ei­ne hal­be Stun­de ein­zu­räu­men. Drei Wo­chen spä­ter sitzt die­ser bei Müller.

Trüm­pys An­lie­gen ist nicht be­son­ders kom­pli­ziert: Er wür­de ger­ne ein paar Jah­re ins Aus­land, das ist näm­lich der Haupt­grund, war­um er sich da­mals ent­schie­den hat­te, die­se Stel­le bei ei­nem eng­li­schen Mul­ti an­zu­neh­men. Die Be­wer­bun­gen über den Dienst­weg sind al­le ver­san­det, und Trüm­pys Frau drängt auf ei­ne Ent­schei­dung, be­vor ih­re Toch­ter schul­pflich­tig wird. Das will er Mül­ler dar­le­gen und ihn bit­ten, ein paar Fä­den zu zie­hen. Das ist alles. 

Mül­ler ist ein Mann mit Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. Ei­ne sei­ner Stär­ken. So­bald sich (kur­zer Blick auf die Per­so­nal­ak­te) Trüm­py ge­setzt hat, be­ginnt er sich in den Mann hin­ein­zu­füh­len. Was geht in die­sem Men­schen vor in die­sem Au­gen­blick, als er Platz ge­nom­men hat vor dem re­prä­sen­ta­ti­ven Pult ei­nes Mit­glieds der Un­ter­neh­mungs­lei­tung, das sich ZEIT NIMMT für die An­lie­gen des un­te­ren bis mitt­le­ren Ka­ders, ob­wohl es weiss Gott an­de­res zu tun hät­te. Das sich nicht zu scha­de ist, TEILZUNEHMEN an den klei­nen Sor­gen der hu­man re­sour­ces, auch wenn …

Das Te­le­fon klin­gelt. Mül­ler hat Frau Aepp­li Wei­sung ge­ge­ben, Ge­sprä­che durch­zu­ge­ben, denn die Welt kann nicht ste­hen blei­ben, nur weil er sein Ohr ei­nem (Blick auf die Per­so­nal­ak­te) Vi­ze­di­rek­tor schenkt.

Mül­ler macht ei­ne ent­schul­di­gen­de Ges­te zu Trüm­py und greift zum Hö­rer. Er führt ein dy­na­mi­sches Ge­spräch vol­ler prä­zi­ser Fra­gen und knap­per An­wei­sun­gen mit ei­nem Mit­glied der er­wei­ter­ten Ge­schäfts­lei­tung und stellt sich vor, was das für die­sen Trüm­py für ein Er­leb­nis sein muss, ei­nem Füh­rungs­mo­ment so haut­nah bei­zu­woh­nen. Er sieht sich mit Trüm­pys Au­gen kon­zen­triert und doch läs­sig am Pult sit­zen und oh­ne Un­ter­la­gen oder Rück­fra­gen aus dem Stand ent­schei­den und da­bei noch die Zeit ha­ben, die Hand auf die Sprech­mu­schel zu le­gen und Trüm­py zu­zu­rau­nen: „Die Tai­wan-Sa­che, bin gleich wie­der bei Ihnen.“

Mül­ler zieht das Ge­spräch noch et­was in die Län­ge, schnei­det ein paar an­de­re Punk­te an und lässt ein paar Na­men aus der Kon­zern­spit­ze fal­len, nur um Trüm­py noch et­was plas­ti­scher vor Au­gen zu füh­ren, wie wert­voll die Zeit ist, die ihm hier ge­op­fert wird. Dann legt er auf und schenkt dem Mann sei­ne un­ge­teil­te Aufmerksamkeit.

Wäh­rend Trüm­py sein An­lie­gen vor­trägt, ver­setzt Mül­ler sich wie­der in ihn hin­ein. Er spürt die ver­ständ­li­che Ner­vo­si­tät, die den Mann be­fällt, so Au­ge in Au­ge mit ei­nem, von dem er im­mer ge­glaubt hat, er sei un­er­reich­bar. Und die Er­leich­te­rung, als er merkt, dass der „Un­er­reich­ba­re“ ein Mensch ist wie er. Ein Mensch, der ZUHÖREN kann und VERSTEHEN.

Als Trüm­py en­det, weiß Mül­ler, dass des­sen An­lie­gen bei Mül­ler in gu­ten Hän­den liegt. Was im­mer es ge­we­sen sein mag.

Nur ein­mal er­schie­nen am 5.6.97


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