Keeping in Touch
Niederer tut etwas, das er sonst nie tut: Er nimmt das Tram. Er weiß selber nicht warum. Vielleicht, weil er sich beweisen will, dass ihm kein Zacken aus der Krone fällt, vielleicht, um zu demonstrieren, dass er jederzeit seinen Lebensstandard nach unten korrigieren könnte, vielleicht aus purem Übermut, es ist ein schöner Sommertag. Jedenfalls ist es ein spontaner Entscheid. (Spontaneität, neben Flexibilität eine der brand-aktuellsten Führungseigenschaften.)
Er geht also zur Tramstation und steigt ins Tram. Sofort weiß er, dass sein Entschluss richtig war: Das Tram ist voller Endverbraucher. Genau die Leute, die man aus dem Auge zu verlieren riskiert, wenn man den Bodenkontakt verliert. Wie so viele seiner Mitarbeiter. Er nimmt sich vor, an der nächsten Kadersitzung die Frage in die Runde zu werfen: „Wann waren Sie zum letzten Mal in einem Tram, meine Herren?“
Niederer macht sich eine entsprechende Notiz. Dann studiert er die Fahrgäste. Er ist sofort fasziniert. Er muss exakt einen repräsentativen Querschnitt durch den unteren Mittelstand erwischt haben, ältere Frauen und Jugendliche leicht übergewichtig aber innerhalb der Toleranz.
Eine Frau hilft einer Mutter mit Kinderwagen in den Anhänger. Eine ältere Frau breitet ein Tuch über ihre Schenkel und hebt einen Dackel, den sie mit „Pucki“ anspricht, auf den Schoß. Zwei scharfkantige Männer unterhalten sich laut in einer abgehackten Sprache. Ein älterer Herr mit Büsimütze riecht nach Schweiß und Rasierseife. Zwei Erstklässler halten selbst gemachte Blumentöpfchen, aus denen Kresse wächst. Ein junges Mädchen trägt ein viel zu kurzes T‑Shirt und einen Ring im Bauchnabel.
Niederer nimmt sich vor, den Vertrag mit seiner Werbeagentur um die Klausel zu erweitern, dass wer an seinem Account arbeite, regelmäßig Tram fahren müsse. Dann würden ihnen die intellektuellen Werbekampagnen von selbst vergehen.
An jeder Station steigen Leute zu. Bemerkenswert, wie viele Endverbraucher dieses Verkehrsmittel benützen. Offenbar häufig benützen, aus der routinierten Art zu schließen, wie sie das tun. Ohne sich gegenseitig besondere Beachtung zu schenken, ohne die Lernbegierde, die Niederer zur Schau trägt. Sogar ohne Niederer zu beachten, der in seinem Kiton Business-Anzug, seinem Maßhemd mit Tab-Kragen und seinen Eins neunzig hier die wohl auffälligste Erscheinung ist.
Als das Tram nach der nächsten Station anfährt, wird es noch interessanter: Zwei Männer – bemerkenswerterweise ohne Uniform – machen Billettkontrolle. Niederer beobachtet genau die verschiedenen Reaktionen seines Zielgruppenquerschnitts. Eine ältere Frau kramt lange in ihrer Handtasche nach einem Abonnement. Ein junger Mann wartet reglos, bis die Billetteure bei ihm sind. Dann zückt er triumphierend eine Fahrkarte.
Niederer wundert sich gerade, woher alle die Leute ihre Billetts haben, als ihn einer der Männer anherrscht: „Bitte Ihren Fahrausweis zur Kontrolle vorweisen.“
„Ich muss ein Billett kaufen“, sagt Niederer von oben herab.
Jetzt hat er die volle Aufmerksamkeit aller seiner Endverbraucher im Tram.
Nur einmal veröffentlicht am 10.7.97