Das strukturelle Denken
Die Entlassung von Kellermann ist ein Entscheid, der gruppendynamisch zustande gekommen ist. Es lag eigentlich nichts vor gegen ihn, er war nicht einmal ein Thema an der Direktionssitzung, an dem seine Kündigung beschlossen wurde. Griesser war das Thema gewesen, aus Kuhlmanns Bereich. Die Runde hatte sich auf Griesser eingeschossen, Kuhlmann hatte ihn eine Weile zäh verteidigt und als er sah, wie ihm die Felle wegschwammen, gegiftelt: „Leute wie Griesser schmeisst man raus während Leute wie Kellermann auf ihren fetten Ärschen hocken bleiben dürfen.
Der Einwand hatte die Runde überrascht. Noch nie hatte man Kellermann auf Direktionsebene etwas vorgeworfen. Schon gar nicht einen fetten Arsch. Er leitet seit Jahren unauffällig den Vertrieb West und auch sein Arsch war bisher nie unangenehm aufgefallen.
„Es müssen halt die die Leute entlassen, die sich trauen“, hatte Kuhlmann in die verblüffte Stille geworfen. Damit war Wermelinger angesprochen, Kellermanns Chef.
Die Diskussion hatte sich von Griesser entfernt und auf den bisher unbescholtenen Kellermann konzentriert und auf den Verdacht, es sei nur auf Wermelingers Schlappschwänzigkeit zurückzuführen, dass Kellermann nicht schon lange gefeuert worden war. Die Kritik an Kellermann verlagerte sich vom Allgemeinen ins Fachliche. Wermelinger sah sich gezwungen, ihn zu opfern. Als Beweis dafür, dass seine Forderung nach Griessers Entlassung sachlich begründet gewesen war.
Seither sind zwei Wochen vergangen, und Wermelinger arbeitet noch immer an der Begründung für Kellermanns Kündigung. Er wird es von der Kostenseite angehen, soviel steht fest. Er wird sagen: „Sehen Sie, so ungerecht ist die Wirtschaft: Je besser die Leistung desto höher der Verdienst. Aber je höher der Verdienst desto grösser auch die Einsparung.“ Doch was antwortet er, wenn Kellermann fragt: „Warum ich? Warum nicht Morath (Vertrieb Ost)? Oder Stein (Service und Beratung)?“
Wermelinger wird diesen Punkt fachlich begründen müssen. Aber wie erklärt er ihm, die guten Qualifikationen der letzten – er blättert in seinen Unterlagen – elf Jahre? Hätte da nicht wenigstens ansatzweise etwas fachliche Kritik dokumentiert sein müssen?
Insgeheim nimmt sich Wermelinger vor, auf Qualifikationsblättern in Zukunft immer ein, zwei für spätere Kündigungen verwertbare fachliche oder charakterliche Einschränkungen zu hinterlassen. Dann wendet er sich wieder Kellermann zu.
Eine Kündigung wird vom Gekündigten viel persönlicher empfunden, wenn es sich um eine isolierte Maßnahme handelt. Wird sie aber im Rahmen einer Gesamtmaßnahme ausgesprochen, beruht sie auf höherer Gewalt und schmerzt weniger.
Wermelinger konsultiert die Personalliste Vertrieb West. Löffel? Schäpper? Frech? Spycher? Am ehesten Schäpper. Der ist relativ neu und ersetzlich. Aber ist das bereits eine Gesamtmaßnahme, Kellermann und Schäpper? Wo fängt die Gesamtmaßnahme an? Bei drei? Bei vier? Löffel, Schäpper und Frech zur Wattierung von Kellermanns Rausschmiss. Die Lösung fängt Wermelinger an zu gefallen. Gegen innen ist sie weicher und gegen außen wirkt sie härter. Und Kuhlmann stopft sie das Maul.
Nur: Wer macht dann den Vertrieb West? Rodel, Wipfli, Holzer und Doebeli allein schaffen das nicht. Es wird Abend, bis Wermelinger die Lösung hat.
Zwei Monate später werden im Zuge einer Restrukturierung die Bereiche Vertrieb Ost und Vertrieb West zum Bereich Vertrieb Schweiz unter der Führung von Rolf Morath (vormals Chef Vertrieb Ost) zusammengelegt. Löffel, Schäpper, Frech, Rodel und – bedauerlicherweise – auch Kellermann fallen der Maßnahme zum Opfer.
Nur einmal erschienen am 10.10.96