Unter Herren
Wenn Eidenbenz geahnt hätte, dass Rentschs Referat so lange dauert, wäre er in der Pause aufs WC gegangen. Aber er hatte gedacht, was immer Rentsch zu sagen hat, könne kaum mehr als eine halbe Stunde dauern, und geplant, die kurze Pause zwischen dem Referentenwechsel zu nützen, wenn die Toiletten leer sind.
Denn Eidenbenz hasst den Pausenbetrieb in Tagungstoiletten. Voser, der sagen würde „Aha, die Natur ruft“, oder Pauli, der „das Komma schüttelt“. Oder Eberhard. Eberhard, der sich immer genau an das Pissoir neben einem stellt, auch wenn alle andern frei sind, mit beiden Fäusten an der Hose nestelt und mit hochgezogenen Schultern, eingezogenem Kopf und angehaltenem Atem vor sich hinpinkelt, bis er erlöst aufstöhnt und beidhändig etwas offenbar Schweres, Unhandliches schwenkt und umständlich verstaut.
Eidenbenz hasst die Vertraulichkeit der Herrentoiletten, die für einen Augenblick nicht nur die natürliche, sondern auch die mit grossem Aufwand geschaffene künstliche Distanz zwischen Menschen aufhebt, die ausser dem Stoffwechsel nichts, aber auch gar nichts gemeinsam haben.
Es ist nicht so sehr die Scham vor den andern, die ihm diese Begegnungen so verhasst macht. Es ist die Scham für die andern. Er will nicht wissen, dass Becker vor dem Spiegel die Fingerspitzen benetzt und damit die Augenbrauen bändigt. Es interessiert ihn nicht, dass Schmidhauser seinen hält wie eine Zigarette bei einer Nachtübung: die Glut unter der hohlen Hand abgeschirmt. Er weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass Gähwiler Zahnseide auf sich trägt und ein Roll-on Deodorant. Und er würde viel darum geben, keine Kenntnis davon zu haben, dass Kleiner die Hände davor wäscht und danach nicht.
Rentsch redet immer noch und wird das wohl auch noch ein Weilchen tun. Eidenbenz beginnt seinen Entschluss zu bereuen. Er zieht die Möglichkeit in Betracht, die Toilette vor Ende des Referats aufzusuchen, verwirft sie aber sofort wieder. Nicht, weil es auf Rentsch ostentativ wirken könnte, im Gegenteil, sondern weil es als planerische Fehlleistung interpretiert werden könnte. Etwas, das sich mit seiner Karriereplanung kaum vereinbaren lässt.
Doch der Drang wird stärker. Nicht nur der, die Blase zu leeren. Vor allem der, die Frisur zu prüfen. Eidenbenz besitzt nämlich eine uneingestandene Schwachstelle. Und zwar am Hinterkopf. Dort lichtet sich sein sonst volles Haar in einer Art, die sich durch unbekümmert männliches Kämmen nicht mehr verbergen lässt. Die Stelle braucht etwas mehr Zuwendung. Und braucht sie regelmässig, sonst klafft sie obszön wie bei Prinz Charles am Ende eines anstrengenden Staatsempfangs.
So kommt zum Drang der Blase der Drang hinzu, die Undurchscheinbarkeit der Haargruppe zu prüfen, die er am Morgen, also gut: mit etwas Lack, über die Stelle fixiert hat, auf die sich nun die Blicke aller von Reihe elf bis sechsundzwanzig vereinigen. Angeführt vom Blick von Becker, dem Haarwunder, den er irgendwo direkt hinter sich vermutet.
Anstatt zum Schluss zu kommen, fängt Rentsch an, am Hellraumprojektor zu hantieren. Eidenbenz nützt die Unruhe und verlässt den Saal, mit einem Blick auf die Uhr.
Die Toilette ist leer. Bevor er zum Pissoir geht, stellt er sich mit dem Rücken vor den Spiegel und zieht verstohlen ein kleines Handspiegelchen aus der Brusttasche.
Die Stelle ist o.k.
Das findet auch Becker, das Haarwunder, der in diesem Moment lächelnd aus einem Toilettenabteil tritt.
Nur einmal erschienen am 30.11.95