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Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Nicht Haller sein

Es gibt Ta­ge, an de­nen Hal­ler von gro­ßem Mit­leid ge­plagt wird mit al­len, die nicht Hal­ler sind. Heu­te ist zum Bei­spiel so ein Tag.

Schon auf der Fahrt ins Bü­ro fängt es an, Ecke Erd­beer­weg – Ei­sen­stra­ße. Er steht dort im Stopp­sack und war­tet, bis ihn je­mand in die fast ste­hen­de Ko­lon­ne rein­lässt. Da kommt ei­ner aus der Haus­tür von Ei­sen­stra­ße 322, Mehr­fa­mi­li­en­block aus den Sech­zi­ger­jah­ren. An­zug, Kra­wat­te, Map­pe, ei­ne Art Turn­schu­he und ei­nes die­ser Män­tel­chen, bei de­nen man nie weiß, ist das jetzt ei­ne zu lan­ge Ja­cke oder ein zu kur­zer Man­tel. Er schaut zu Hal­ler her­über und dann so­fort wie­der weg. Will sich nicht mit dem An­blick quä­len die­ses er­folg­rei­chen Ma­na­gers in die­sem gut sit­zen­den hell­blau­en Hemd (das Ja­ckett liegt sorg­fäl­tig in die Rü­cken­naht ge­legt auf dem Ne­ben­sitz), mit die­ser um ei­ni­ges ge­schmack­vol­le­ren Kra­wat­te in die­sem noch kaum ge­fah­re­nen Au­di A6 vie­len gei­len Extras.

Am liebs­ten wä­re Hal­ler aus­ge­stie­gen und hät­te dem Mann zu­ge­ru­fen: „Kom­men Sie, stei­gen Sie ein, kann ich Sie ir­gend­wo hin­brin­gen? In ir­gend­ei­ne Un­ter­ab­tei­lung ir­gend­ei­ner er­folg­lo­sen Di­ver­si­fi­ka­ti­on ir­gend­ei­nes Über­nah­me­kan­di­da­ten? In ir­gend­ein Amt mit tris­ten Aqua­rel­len aus al­ten Be­stän­den des Kunstkredits?“

Aber der Mann geht wei­ter, oh­ne sich noch ein­mal um­zu­dre­hen. Wahr­schein­lich zur Bus­hal­te­stel­le, an der Hal­ler, so­bald er sich in die Ko­lon­ne ein­ge­fä­delt hat, vor­bei­fah­ren wird. Und sei­ner­seits den Blick wird ab­wen­den müs­sen von al­len, die dort ste­hen wer­den und nicht Hal­ler sind.

Und dann fährt er durch die­se Stra­ßen vol­ler Mit­tel­klas­se­wa­gen, Ge­braucht­wa­gen, Lea­sing­fahr­zeu­gen, und je­des Mal bricht es ihm schier das Herz, wenn er die Ge­sich­ter der Män­ner hin­ter dem Steu­er sieht: Ent­schlos­sen, ih­rer Ver­rich­tung nach­zu­ge­hen, und sei sie noch so über­flüs­sig. Als wä­ren sie sich ih­rer Be­deu­tungs­lo­sig­keit nicht be­wusst. Als wä­re es ganz leicht zu er­tra­gen, nicht Hal­ler zu sein.

Ist es ja viel­leicht auch für die, die ihn nicht per­sön­lich ken­nen. Die ihn nur im Stras­sen­ver­kehr als Phan­tom des­sen, was sie nicht sind und nie sein wer­den, aus den Au­gen­win­keln vor­bei­glei­ten se­hen. Die das Hal­ler-sein nicht in sei­ner gan­zen Trag­wei­te er­fas­sen und das Nicht-Hal­ler-sein nicht in sei­ner gan­zen Wucht er­tra­gen müssen.

Aber so­bald er aus der An­ony­mi­tät des Be­rufs­ver­kehrs in die In­ti­mi­tät des Un­ter­neh­mens tritt, wird die Bru­ta­li­tät, nicht Hal­ler zu sein, durch nichts mehr ge­lin­dert. Denn die Be­trof­fe­nen ken­nen ihn, er­le­ben ihn, be­kom­men täg­lich vor Au­gen ge­führt, was ge­nau es ist, das sie nicht sind. Am liebs­ten wür­de er mit den durch ei­ne tie­fe­re Eta­ge Ge­de­mü­tig­ten in ih­rem Stock­werk aus­stei­gen und sie an ih­ren Ar­beits­platz be­glei­ten und ge­mein­sam mit ih­nen über die Witz­post­kar­te aus Can­cun wei­nen, die über dem Bild­schirm hängt. Oder über die sin­gen­de Fo­rel­le in der Kaffeeküche.

Ei­nen Tag wie die­sen wür­de Hal­ler nicht oh­ne schwe­re De­pres­si­on über­ste­hen, gä­be es da nicht je­man­den, von dem er sich in der Mit­tags­pau­se et­was trös­ten las­sen kann. Und für die er nicht der Hal­ler ist, son­dern ein­fach – der Schmu­se Bär.

Aus­ge­rech­net am Abend die­ses Ta­ges vol­ler Em­pa­thie emp­fängt ihn sei­ne Frau mit stei­ner­ner Mie­ne und sagt schnei­dend: „So­so: Der Schmu­se Bär.“

Seit­her gibt es Ta­ge, an de­nen Hal­ler mit al­len Mit­leid hat, die Hal­ler sind.

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