Nicht Haller sein

Es gibt Tage, an denen Haller von großem Mitleid geplagt wird mit allen, die nicht Haller sind. Heute ist zum Beispiel so ein Tag.
Schon auf der Fahrt ins Büro fängt es an, Ecke Erdbeerweg – Eisenstraße. Er steht dort im Stoppsack und wartet, bis ihn jemand in die fast stehende Kolonne reinlässt. Da kommt einer aus der Haustür von Eisenstraße 322, Mehrfamilienblock aus den Sechzigerjahren. Anzug, Krawatte, Mappe, eine Art Turnschuhe und eines dieser Mäntelchen, bei denen man nie weiß, ist das jetzt eine zu lange Jacke oder ein zu kurzer Mantel. Er schaut zu Haller herüber und dann sofort wieder weg. Will sich nicht mit dem Anblick quälen dieses erfolgreichen Managers in diesem gut sitzenden hellblauen Hemd (das Jackett liegt sorgfältig in die Rückennaht gelegt auf dem Nebensitz), mit dieser um einiges geschmackvolleren Krawatte in diesem noch kaum gefahrenen Audi A6 vielen geilen Extras.
Am liebsten wäre Haller ausgestiegen und hätte dem Mann zugerufen: „Kommen Sie, steigen Sie ein, kann ich Sie irgendwo hinbringen? In irgendeine Unterabteilung irgendeiner erfolglosen Diversifikation irgendeines Übernahmekandidaten? In irgendein Amt mit tristen Aquarellen aus alten Beständen des Kunstkredits?“
Aber der Mann geht weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wahrscheinlich zur Bushaltestelle, an der Haller, sobald er sich in die Kolonne eingefädelt hat, vorbeifahren wird. Und seinerseits den Blick wird abwenden müssen von allen, die dort stehen werden und nicht Haller sind.
Und dann fährt er durch diese Straßen voller Mittelklassewagen, Gebrauchtwagen, Leasingfahrzeugen, und jedes Mal bricht es ihm schier das Herz, wenn er die Gesichter der Männer hinter dem Steuer sieht: Entschlossen, ihrer Verrichtung nachzugehen, und sei sie noch so überflüssig. Als wären sie sich ihrer Bedeutungslosigkeit nicht bewusst. Als wäre es ganz leicht zu ertragen, nicht Haller zu sein.
Ist es ja vielleicht auch für die, die ihn nicht persönlich kennen. Die ihn nur im Strassenverkehr als Phantom dessen, was sie nicht sind und nie sein werden, aus den Augenwinkeln vorbeigleiten sehen. Die das Haller-sein nicht in seiner ganzen Tragweite erfassen und das Nicht-Haller-sein nicht in seiner ganzen Wucht ertragen müssen.
Aber sobald er aus der Anonymität des Berufsverkehrs in die Intimität des Unternehmens tritt, wird die Brutalität, nicht Haller zu sein, durch nichts mehr gelindert. Denn die Betroffenen kennen ihn, erleben ihn, bekommen täglich vor Augen geführt, was genau es ist, das sie nicht sind. Am liebsten würde er mit den durch eine tiefere Etage Gedemütigten in ihrem Stockwerk aussteigen und sie an ihren Arbeitsplatz begleiten und gemeinsam mit ihnen über die Witzpostkarte aus Cancun weinen, die über dem Bildschirm hängt. Oder über die singende Forelle in der Kaffeeküche.
Einen Tag wie diesen würde Haller nicht ohne schwere Depression überstehen, gäbe es da nicht jemanden, von dem er sich in der Mittagspause etwas trösten lassen kann. Und für die er nicht der Haller ist, sondern einfach – der Schmuse Bär.
Ausgerechnet am Abend dieses Tages voller Empathie empfängt ihn seine Frau mit steinerner Miene und sagt schneidend: „Soso: Der Schmuse Bär.“
Seither gibt es Tage, an denen Haller mit allen Mitleid hat, die Haller sind.