Leimgruber und die Macht
Wenn Leimgruber ganz ehrlich ist, ist es ihm nicht nur unangenehm, wie alle still werden, wenn er auch nur Anstalten macht, sich äussern zu wollen. Wie der, der gerade spricht, den Faden verliert, wenn er auch nur Anstalten zu Anstalten macht, etwas einwerfen zu wollen. Etwas tiefer Luft holt oder die Hand Richtung Brille führt, um diese eventuell abzunehmen und den Vortragenden eventuell ins Auge zu fassen, eventuell seine „No nonsense“ Miene aufzusetzen.
Auch dass die beiden Frauen im Empfang sofort ihr Gespräch über Bachblüten unterbrechen, wenn er am Glasportal erscheint, ihm mit ihrem bezauberndsten Lächeln zunicken und aufgeregt zu telefonieren beginnen, sobald sie sich ausserhalb seines Blickfelds wähnen, macht ihm nichts aus.
Auch darunter, dass dann Frau Schlüter seinen „English Breakfeast Tea“ (ein Assugrin, a cloud of milk) schon bereithält, wenn er ins Büro stürmt, leidet er eigentlich kaum.
Und auch mit den subtileren Dingen kommt er ganz gut zurecht: Die Klaglosigkeit, mit der geduldet wird, dass er „Forbes Magazine“ erst nach drei Wochen und ungelesen in Zirkulation gibt. Die Herzlichkeit, mit der über einen Witz gelacht wird, den er absichtlich zum vierten, fünften Mal erzählt. Die Widerspruchslosigkeit, mit der auch der hanebüchenste Blödsinn akzeptiert wird, den er probehalber von sich gibt.
Wenn Leimgruber ganz ehrlich ist, muss er zugeben, dass er ganz gut leben kann mit der Macht. Auch, wenn das nicht immer so war. Das erste Mal, als ihn einer, der ihn jahrelang ignoriert hatte, plötzlich nett grüsste, nur weil er als PROKURIST im Gespräch war, hatte ihn das schon etwas irritiert. Er fand damals (wie lange ist das her?), es gehe schliesslich um die Person, nicht um den Titel. Er als Mensch habe sich ja dadurch nicht verändert, dass er eventuell bald die Prokura erhält. Was natürlich kompletter Unsinn war. Nichts sollte ihn mehr verändern als die Sicht, die die anderen von ihm hatten. Und nichts sollte diese so nachhaltig prägen, wie immer wieder die jeweils nächste Stufe seiner Karriere. So gewöhnte sich Leimgruber schnell daran, dass in einem Restaurant zwei leise miteinander reden und dabei in seine Richtung blicken und freundlich nicken, wenn er sie dabei ertappt. Er lernte, mit seiner erst abteilungsinternen, dann firmeninternen, dann brancheninternen und heute beinahe wirtschaftsmedieninternen Prominenz zu leben.
Heute stört es ihn praktisch nicht mehr, wenn er in einem Restaurant einen Tisch bekommt, obwohl eigentlich keiner frei ist. Und wie mit der Prominenz hält er es auch mit der Macht: Er spielt sie nicht aus. Es genügt ihm, dass er sie besitzt. Selbstverständlich gewinnt er an natürlicher Autorität in einer Runde, die aus Leuten besteht, deren Büroschlüssel morgen nicht mehr ins Schloss passen, wenn er es denn so will. Natürlich gewinnen die Argumente an Überzeugungskraft, wenn der, der sie vorträgt, dem, der ihnen widersprechen könnte, den Bonus streichen kann.
Aber Leimgruber ist nicht machtbesessen. Für ihn ist Macht nichts anderes als ein prima Führungsinstrument, wie er es einmal in einer verständnisvollen Runde formuliert hat.
Obwohl: so mit einem einzigen Satz eine ganze Diversifikation eines Vorgängers aus den Achtzigerjahren aus der Welt schaffen können oder einen theoretisch an die Luft setzen zu können, einfach nur, weil er Krawattennadeln trägt, ist irgendwie schon ein geiles Gefühl. Wenn er ganz ehrlich ist.
Aber wenn Leimgruber ganz ehrlich wäre, hätte er es wohl kaum so weit gebracht.
Nur einmal erschienen am 1.2.96