Küderlis externe Kommunikation
Willi Küderli ist nicht einer, auf den sich alle Augen richten, wenn er einen Raum betritt, im Gegenteil. Es kann Willi Küderli passieren, dass er einen Raum betritt, sich eine Weile darin aufhält und ihn wieder verlässt, ohne dass ein einziger Mensch etwas davon bemerkt hätte. Das war schon immer so. In der Schule konnte Küderli aufstrecken soviel er wollte, die Lehrer übersahen ihn. Viele seiner Mitschüler hätten viel um Küderlis Unauffälligkeit gegeben, aber Küderli litt darunter; er wusste die Antworten.
Küderli ist nicht unansehlich. Er hat auch keinen körperlichen Defekt. Er ist auch nicht besonders klein oder dünn. Er ist einfach von einer an Unsichtbarkeit grenzenden Unscheinbarkeit.
Wenn Küderli hinter jemandem durch eine Schwingtür geht, muss er darauf gefasst sein, dass sie ihm ins Gesicht fliegt, weil der vor ihm ihn nicht bemerkt hat. Wenn er der Erste in einem Sitzungszimmer ist, fragt ihn der Zweite: „Warum ist noch kein Mensch hier?“ Und wie oft er auch seinen Namen (einen Namen wie Küderli!) sagt, immer heisst es: „Herr, ehm?“
Für die Karriere ist das natürlich nicht gut. Küderli ist es immer wieder passiert, dass ihm weniger qualifizierte, weniger talentierte und weniger erfahrene Kollegen vorgezogen wurden, nur weil sie denen, die die Beförderung machten, präsent waren.
Küderli hat vieles versucht, Schlips statt Krawatte, Dissertation, Larry-King-Hosenträger, Designerbrille, „Egoïste“, Pfeife, 1952er Buick, Weinsammlung, aber immer nahmen die Accessoires überhand und die Person Willi Küderlis verblasste noch mehr.
Erst das Handy brachte etwas Linderung.
Küderli hatte kurz gezögert mit dessen Anschaffung. Auch er weiss, dass es in richtigen Managementkreisen als etwas Möchtegern gilt. Als das Mittel der Entbehrlichen, ihre Unentbehrlichkeit zu demonstrieren.
Es ist Küderli auch klar, dass das Handy in Individualistenkreisen belächelt wird als das Beweisstück dafür, dass man Teil eines Ganzen ist, das jederzeit und überall auf einen zurückgreifen kann. Ein Instrument der Repression, an dem man die Opfer erkennt, nicht die Täter.
Aber für Küderli heben alle Imagenachteile des Handys nicht dessen grossen Nutzen als Kommunikationsmittel auf. Nicht zwischen denen, mit denen er telefoniert, sondern zwischen denen, die ihm dabei zuhören.
Küderli hat entdeckt, dass er die Beachtung, Anerkennung und Autorität, die er sich in seinem engsten beruflichen Umfeld erkämpft hat, mit dem Handy nach aussen tragen kann. Er sitzt zum Beispiel in einem vollbesetzten Zugabteil (etwas, das er seit dem Handy immer öfter tut). Sein Vis-à-vis hat die Beine übereinandergeschlagen, wie wenn Küderlis Sitz leer wäre, und der neben ihm will gerade seinen Aktenkoffer auf Küderlis Schoss abstellen, da piepst es in seinem Jacket. Alles horcht auf.
„Küderli.“, sagt Küderli laut und deutlich, und ist damit bereits einen Teil seiner Anonymität los. Und bevor sich das Abteil mit spöttischen Blickwechseln abwendet und Küderli wieder in Luft aufgehen lässt, plaziert er ein paar präzise Anweisungen, die besagen: Hier spricht ein Mann, dessen Wort etwas gilt. Lässt er ein paar Namen fallen, die beweisen: Hier sitzt einer unter uns, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Nennt er ein paar Zahlen, die bedeuten: Hier haben wir einen ignoriert, der bestimmt nicht auf den öffentlichen Verkehr angewiesen wäre.
Bitte rufen Sie Willi Küderli an.
Nur einmal erschienen am 28.3.93