Habermachers schwache Momente
Zugegeben: Es kommt selten vor. Habermacher ist kein Weichling. Unternehmen ab einer gewissen Grösse werden nicht von Schmusekatern geführt. Und Entscheidungen ohne Härten sind keine. Aber dennoch hat auch er sie: die schwachen Momente.
Früher hat er sie gefürchtet und alles getan, ihnen nicht nachzugeben. Aber je älter und reifer er wurde, desto klarer wurde ihm, dass es beides braucht: Stärke und Schwäche. Weichheit und Härte. Yin und Yang. Inzwischen gibt er sich ihnen hin, den schwachen Momenten (nichts Leichtes für den Winner: Hingabe), so kurz sie auch sind.
Nicht dass er sie sucht, das nicht. Aber er ist sich bewusst (auch wichtig: Bewusstsein), dass sie jederzeit eintreffen können, und dass er dann bereit sein muss, loszulassen (Loslassenkönnen, etwas vom überhaupt Persönlichkeitsbildendsten). Habermacher ist inzwischen so weit, dass er ohne Zögern Schwäche zeigen würde, selbst gegenüber Zweitpersonen, falls zufällig anwesend. Wenn es sich nicht gerade um Weinen handelte oder Bettnässen. Aber so eine kleine, normale Schwäche wie eine Entscheidung aufschieben oder eine Massnahme abschwächen oder einer leicht übertriebenen Forderung nachgeben, warum nicht? Es gibt ja immer Möglichkeiten, so etwas wieder geradezubiegen.
Heute, mit dreiundfünfzig, wäre Habermacher innerlich ohne Weiteres bereit, jemandem nachzugeben, der (oder die!) ihn in einem schwachen Moment antrifft. Dass es bis jetzt noch nie dazu gekommen ist, ist einzig dem Zufall zu verdanken, der Habermachers schwache Momente schlecht koordiniert. Denn soweit, die schwachen Momente denen nachzuwerfen, die davon profitieren könnten, ist Habermacher nun auch wieder nicht. Im Gegenteil: Er hat an sich beobachtet, dass bereits der unausgelebte schwache Moment sozusagen autogen seinen Teil zur Abrundung einer etwas gar kantigen Persönlichkeit beiträgt. Habermacher denkt zum Beispiel: Wenn mich Kellerhals jetzt um die Aufstockung seines Personalbudgets bitten würde, ich würde sie ihm glatt bewilligen. Obwohl eine Aufstockung von Kellerhals’ ohnehin schon überhöhtem Personalbudget ein durch und durch unvernünftiges, geradezu hirnverbranntes und unter normalen Umständen auch völlig aussichtsloses Anliegen wäre: hätte Kellerhals jetzt, in genau diesem Augenblick, die Frechheit, ihn darum zu bitten, Habermacher wäre imstande und bewilligte es ihm.
Dass Kellerhals der Instinkt abgeht, diesen schwachen Moment zu ahnen und auszunützen, ist erstens nicht Habermachers Problem und bringt zweitens alle technischen Vorteile mit sich, die nun einmal nicht begangene Fehler mit sich bringen.
Aber manchmal plagt Habermacher halt doch die Ungewissheit. Würde er die nötige Nachgiebigkeit und Weichheit, die Portion Frivolität im Ernstfall auch wirklich aufbringen? Oder würde er, Auge in Auge mit denen, die seinen schwachen Moment ausnützen wollen, kläglich versagen und in seine gewohnte Sachbezogenheit zurückfallen?
Zuweilen ist Habermacher drauf und dran, die Entscheidung künstlich herbeizuführen. Mitten in einer wichtigen Sitzung einen schwachen Moment vorzutäuschen, Kompromisse einzugehen, die niemand gefordert hat, Entscheidungen aufzuschieben, die gar nicht anstehen. Einfach nur um die letzte Gewissheit zu besitzen, dass er fähig ist, auch in der Praxis einem schwachen Moment nachzugeben.
Aber wie gesagt: Es kommt selten vor.
Nur einmal erschienen am 22.6.95