Guldimanns Selbstanalyse

Wenn Guldimann am Morgen sein Müesli isst, seinen Orangensaft trinkt und seine Zeitung liest, fühlt er sich eigentlich immer prima. Er freut sich, ehrlich gesagt, auf den bevorstehenden Tag. Auf seinen schönen Alfa, mit dem er bald ins Geschäft fahren wird; auf Frau Zehntner am Empfang, die ihm immer so putzmunter „Guten Tag, Herr Guldimann“ zuruft; auf Frau Wanner, die ihm den Kaffee und die Post bringt; auf sein aufgeräumtes Schleiflackpult; auf seinen Executive Chair mit vier Verstellmöglichkeiten; auf die geballte Ladung Probleme, die auf ihn wartet; und auf die überraschenden Lösungen, mit denen er ihnen auf den Leib rücken wird. Guldimann hat Freude an seiner Arbeit, hat Energie und Ideen. Und damit eigentlich alles, was ein Manager zum Erfolg braucht. Ausser eben Erfolg.
Nicht, dass Guldimann erfolglos wäre. Er hat eine schöne Position als Managing Director einer Tochtergesellschaft eines grösseren Mischkonzerns. Nur ist er das schon etwas lange. Damals, mit 42, war das ein recht aufsehenerregender Karrieresprung gewesen, und man war sich, intern und extern, einig gewesen, dass das nur eine Zwischenetappe auf Guldimanns steilem Aufstieg sein konnte. Inzwischen ist er 51 und immer noch in der Zwischenetappe.
Dabei hat er seinen Job gut gemacht, gute Produkte und schöne Zahlen produziert und Erfolg gehabt. Besser gesagt: eine Art Erfolg. Nicht den eigentlichen Erfolg. Den, der im Erfolg selber besteht. Sondern nur den, der aus der Summe vieler richtiger Massnahmen und Entscheide besteht.
Guldimann ist kein Grübler. Aber ein Analytiker manchmal schon. Er hat sich natürlich die Frage gestellt, wie er in diesen Karrierestau geraten ist. Und ist jetzt auf eine überraschende Antwort gestossen: Er ist nicht ausgebrannt.
Immer wieder stösst er auf Berichte über ausgebrannte Manager, über Empfehlungen, wie man das Ausbrennen vermeiden oder wie man sich davon erholen, sich wieder aufladen kann. Aber Guldimann selbst hat im Lauf seiner ganzen Karriere noch nie auch nur das kleinste Anzeichen von Ausgebranntheit verspürt. Oder von dem, was er sich unter Ausgebranntheit vorstellt: Irgendeine Leere an einer Stelle, wo sonst Fülle ist; Schwärze, wo er sich sonst Helligkeit gewohnt ist; Asche, wo sonst Farbe sein müsste.
Und was ist das für ein Manager, fragt er sich, und fragen sich wohl auch die, die über seine Karriere entscheiden, was ist das für ein Manager, der nie ausbrennt? Ist der einfach feuerfest?
Oder ist da kein Feuer?
Und was ist das, fragt man sich weiter, für ein Job, den man ohne Feuer machen kann? In einem gewissen Sinn sogar „erfolgreich“ machen kann? Ein sehr anspruchsvoller jedenfalls nicht.
Also: Für was für einen anspruchsvollen Job qualifiziert sich ein Manager, der über Jahre klaglos einen anspruchslosen erfolgreich ausüben kann?
Guldimann ist sich sicher, dass seine Karriere durch seine Unausgebranntheit zum Stillstand gekommen ist. Aber Ausgebranntheit vorzutäuschen, dazu ist es jetzt zu spät. Denn was ist das für ein Manager, der nach neun Jahren eines erwiesenermassen anspruchslosen Jobs plötzlich ausgebrannt ist?
So isst Guldimann weiterhin am Morgen sein Müesli, trinkt seinen Orangensaft, liest seine Zeitung, fühlt sich prima und freut sich, ehrlich gesagt, auf den bevorstehenden Tag.
Und so schafft er es natürlich nie.
Nur einmal erschienen am 7.4.1995