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Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Ein Gebot der Nächstenliebe

Das sind die ein­sams­ten Mo­men­te im Le­ben ei­nes Ma­na­gers: Wenn er die Ent­schei­de fäl­len muss, die den mensch­li­chen Be­reich be­rüh­ren: Per­so­nal­ent­schei­de, Ge­halts­ent­schei­de. Dann be­nei­det ihn nie­mand, dann sagt kei­ner, „was der kann, kann ich auch“. Dann sitzt er in sei­nem Bü­ro, auf des­sen Aus­sicht sonst al­le ei­fer­süch­tig sind, oder hin­ter dem Steu­er sei­nes Wa­gens, den ihm sonst al­le miss­gön­nen und wünscht sich ei­nen Men­schen, der ihm ei­nen Teil sei­ner Last ab­neh­men kann, ei­nen, der ihm sagt „komm, ich helf’ dir ein we­nig tra­gen.“ Aber kei­ner kommt. In sol­chen Mo­men­ten ist der Ma­na­ger ganz al­lein. Be­son­ders jetzt, so kurz vor Weihnachten.

Kien­ast sitzt an sei­nem Pult, durch des­sen di­cke Glas­plat­te er den schwe­ren Fla­nell sei­ner Ho­se se­hen kann und die ta­del­los po­lier­ten Spit­zen sei­ner Bal­ly-Schu­he, die man in sei­nen Krei­sen aus So­li­da­ri­tät wie­der trägt. Vor ihm lie­gen die Zah­len. Schö­ne Zah­len. Wun­der­ba­re Zah­len. Zah­len, wie man sie in die­sem Haus vor sei­ner Zeit nie und seit sei­ner Zeit auch nicht all­zu oft ge­se­hen hat. Zah­len, die verpflichten.

Kien­ast reisst sich los. Ein Ma­na­ger darf sich zwar schon ei­nen klit­ze­klei­nen Au­gen­blick lang am Er­reich­ten freu­en, aber dann hat er sich wie­der voll auf das noch zu Er­rei­chen­de zu kon­zen­trie­ren. Und was kann das an­de­res sein als: noch schö­ne­re Zahlen? 

Die Chan­cen ste­hen nicht schlecht. Das Bud­get bis zur Jah­res­mit­te ist prak­tisch er­reicht und für die zwei­te Hälf­te be­stehen be­ru­hi­gen­de Vor­ab­schlüs­se. Vom Schiff aus, des­sen Ka­pi­tän er ist, wür­de Kien­ast sa­gen, dass sie im 96 prak­tisch gleich­zie­hen wer­den. Und mit et­was Glück …

Aber für Glück wird er nicht be­zahlt. Glück ist der Bo­nus für Ef­fi­zi­enz. Schön, wenn man es hat, aber kei­ne Ka­ta­stro­phe, wenn es ausbleibt.

Kien­ast wüss­te schon, wie er den Fak­tor „Glück“ aus­schlies­sen und trotz­dem das Er­geb­nis über­tref­fen könn­te: kos­ten­sei­tig. Nicht, dass noch gros­se Per­so­nal­ein­spa­run­gen drin lä­gen, in die­ser Hin­sicht ist er wohl am un­te­ren An­schlag, aber lohn­bud­get­sei­tig. Auf die­sem Be­reich lä­ge noch ei­ni­ges drin. Und wann soll man denn ei­ne Null­run­de ma­chen, wenn nicht jetzt, wo der Teue­rungs­in­dex prak­tisch ei­ner Lohn­er­hö­hung gleich­kommt. (Er weiss schon: De­fla­ti­on. Aber soll er der Ein­zi­ge sein, der die Wirt­schaft ankurbelt?)

Es ist nur ei­ne un­schö­ne Sa­che, so kurz vor Weih­nach­ten dem un­te­ren und mitt­le­ren Ka­der (beim obe­ren wür­de er si­tua­tiv ent­schei­den) schrei­ben zu müs­sen: „Lie­be Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter, dan­ke für den Ein­satz aber ei­ne Lohn­er­hö­hung liegt trotz­dem nicht drin.„Wieviel Ent­täu­schung un­ter den Bäum­chen, wie viel Er­nüch­te­rung hin­ter den Weih­nachts­ster­nen an den Stu­ben­fens­tern. Und er der, der dar­an schuld ist. Er, Kien­ast, der Un­mensch, der den Ver­zicht auf den Ga­ben­tisch, das Leid an das Fest der Freu­de ge­bracht hat. Kann er das ver­ant­wor­ten? Nie­mand gibt ihm dar­auf ei­ne Ant­wort. Nie­mand nimmt ihm die Ent­schei­dung ab. Draus­sen wird ein grau­er Tag von ei­nem frü­hen Abend ab­ge­löst. Bald ge­hen die Lich­ter der Weih­nachts­de­ko­ra­tio­nen an. Sol­len sei­ne Leu­te vor den Schau­fens­tern ste­hen und sich fra­gen, ob sie das Geld für das Pup­pen­haus, das Drei­rad, das Ted­dy­bär­chen! nicht lie­ber für här­te­re Zei­ten spa­ren sollen?

In Kien­asts Bü­ro ist es stock­dun­kel, als er sei­ne Ent­schei­dung trifft: Nein. Er wird sei­nen Leu­ten die Weih­nach­ten nicht mit ei­nem Lohn­stopp zu versauen.

Er wird sie im Ja­nu­ar informieren.


Nur ein­mal er­schie­nen am 14.12.95


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