Ein Gebot der Nächstenliebe

Das sind die einsamsten Momente im Leben eines Managers: Wenn er die Entscheide fällen muss, die den menschlichen Bereich berühren: Personalentscheide, Gehaltsentscheide. Dann beneidet ihn niemand, dann sagt keiner, „was der kann, kann ich auch“. Dann sitzt er in seinem Büro, auf dessen Aussicht sonst alle eifersüchtig sind, oder hinter dem Steuer seines Wagens, den ihm sonst alle missgönnen und wünscht sich einen Menschen, der ihm einen Teil seiner Last abnehmen kann, einen, der ihm sagt „komm, ich helf’ dir ein wenig tragen.“ Aber keiner kommt. In solchen Momenten ist der Manager ganz allein. Besonders jetzt, so kurz vor Weihnachten.
Kienast sitzt an seinem Pult, durch dessen dicke Glasplatte er den schweren Flanell seiner Hose sehen kann und die tadellos polierten Spitzen seiner Bally-Schuhe, die man in seinen Kreisen aus Solidarität wieder trägt. Vor ihm liegen die Zahlen. Schöne Zahlen. Wunderbare Zahlen. Zahlen, wie man sie in diesem Haus vor seiner Zeit nie und seit seiner Zeit auch nicht allzu oft gesehen hat. Zahlen, die verpflichten.
Kienast reisst sich los. Ein Manager darf sich zwar schon einen klitzekleinen Augenblick lang am Erreichten freuen, aber dann hat er sich wieder voll auf das noch zu Erreichende zu konzentrieren. Und was kann das anderes sein als: noch schönere Zahlen?
Die Chancen stehen nicht schlecht. Das Budget bis zur Jahresmitte ist praktisch erreicht und für die zweite Hälfte bestehen beruhigende Vorabschlüsse. Vom Schiff aus, dessen Kapitän er ist, würde Kienast sagen, dass sie im 96 praktisch gleichziehen werden. Und mit etwas Glück …
Aber für Glück wird er nicht bezahlt. Glück ist der Bonus für Effizienz. Schön, wenn man es hat, aber keine Katastrophe, wenn es ausbleibt.
Kienast wüsste schon, wie er den Faktor „Glück“ ausschliessen und trotzdem das Ergebnis übertreffen könnte: kostenseitig. Nicht, dass noch grosse Personaleinsparungen drin lägen, in dieser Hinsicht ist er wohl am unteren Anschlag, aber lohnbudgetseitig. Auf diesem Bereich läge noch einiges drin. Und wann soll man denn eine Nullrunde machen, wenn nicht jetzt, wo der Teuerungsindex praktisch einer Lohnerhöhung gleichkommt. (Er weiss schon: Deflation. Aber soll er der Einzige sein, der die Wirtschaft ankurbelt?)
Es ist nur eine unschöne Sache, so kurz vor Weihnachten dem unteren und mittleren Kader (beim oberen würde er situativ entscheiden) schreiben zu müssen: „Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, danke für den Einsatz aber eine Lohnerhöhung liegt trotzdem nicht drin.„Wieviel Enttäuschung unter den Bäumchen, wie viel Ernüchterung hinter den Weihnachtssternen an den Stubenfenstern. Und er der, der daran schuld ist. Er, Kienast, der Unmensch, der den Verzicht auf den Gabentisch, das Leid an das Fest der Freude gebracht hat. Kann er das verantworten? Niemand gibt ihm darauf eine Antwort. Niemand nimmt ihm die Entscheidung ab. Draussen wird ein grauer Tag von einem frühen Abend abgelöst. Bald gehen die Lichter der Weihnachtsdekorationen an. Sollen seine Leute vor den Schaufenstern stehen und sich fragen, ob sie das Geld für das Puppenhaus, das Dreirad, das Teddybärchen! nicht lieber für härtere Zeiten sparen sollen?
In Kienasts Büro ist es stockdunkel, als er seine Entscheidung trifft: Nein. Er wird seinen Leuten die Weihnachten nicht mit einem Lohnstopp zu versauen.
Er wird sie im Januar informieren.
Nur einmal erschienen am 14.12.95