Die Woche Zwoundfünfzig

Vom 24.12.1992

Schon seit Be­ginn der Wo­che acht­und­vier­zig steht auf dem Emp­fangspult ein Ad­vents­ge­bin­de, das die Re­zep­tio­nis­tin mög­li­cher­wei­se selbst ge­steckt hat. Mög­li­cher­wei­se al­lein­er­zie­hen­de Mut­ter. Mög­li­cher­wei­se Wald­spa­zier­gang. Schläf­li will es nicht wissen!

Zu Be­ginn der Wo­che neun­und­vier­zig spie­gelt sich dann auch prompt die ers­te Ker­ze so fest­lich in den er­war­tungs­vol­len Au­gen der Re­zep­tio­nis­tin, dass Schläf­li nicht um­hin kann, ei­ne Be­mer­kung zu ma­chen. „Ah, je­de Ker­ze an­ders“, mur­melt er und ret­tet sich in den Lift. Mein Gott, auch noch je­de Ker­ze an­ders! denkt er an­ge­wi­dert. Für den Rest der Wo­che ge­lingt es ihm dann aber ei­ni­ger­ma­ßen, die An­zei­chen auf die Wo­che zwound­fünf­zig zu ignorieren. 

In der Wo­che fünf­zig wird das schwie­ri­ger we­gen der Fest­tags­wün­sche: Er er­hält künst­le­ri­sche Kar­ten mit dem Hin­weis, dass das Un­ter­neh­men des Ab­sen­ders statt Weih­nachts­ge­schen­ke zu ver­schi­cken ei­nen nam­haf­ten Be­trag an ei­ne wohl­tä­ti­ge Or­ga­ni­sa­ti­on ver­schickt hat und ver­schickt eben­sol­che, die­ses Jahr Rolf Knie/Rotes Kreuz.

Am fol­gen­den Mon­tag brennt die drit­te Ker­ze in der Re­zep­ti­on. Ei­ne un­an­sehn­li­che feld­graue. Wahr­schein­lich Ker­zen­zie­hen 1991. Zum ers­ten Mal kon­fron­tiert er sich be­wusst mit dem Wort „Weih­nachts­ge­schen­ke“, um die Wir­kung zu tes­ten, im Selbst­ver­such. Das Re­sul­tat ist be­un­ru­hi­gend, aber noch nicht ver­hee­rend. Es ge­lingt ihm oh­ne be­son­de­re An­stren­gung, das Wort für den Rest des Ta­ges zu verdrängen.

Am Frei­tag­abend der Wo­che ein­und­fünf­zig be­geg­net ihm im Lift der ers­te Mann mit ei­nem Weih­nachts­päck­chen. Von Frau­en ist er sich die­sen An­blick seit Wo­che fünf­und­vier­zig ge­wohnt. Ei­ne Frau mit ei­ner Plas­tik­ta­sche, aus der Päck­chen mit Bän­del­chen und Mäsch­chen und Stern­chen und En­gel­chen her­vor­blit­zen, be­deu­tet noch nicht den Ernst­fall. Aber Kel­ler, ein an sich nor­ma­ler, brauch­ba­rer Ab­tei­lungs­lei­ter oh­ne Il­lu­sio­nen, mit ei­nem deut­lich sicht­ba­ren Ge­schenk­pa­ket? Da­vor konn­te er nicht mehr die Au­gen verschließen.

„Hat je­mand Ge­burts­tag?“ fragt er ihn noch, oh­ne gro­ße Hoff­nung. Kel­ler lä­chelt höf­lich, wie wenn Schläf­li ei­nes sei­ner Vor­ge­setz­ter-Im-Lift-Witz­chen ge­macht hät­te und ant­wor­tet: „Das letz­te Weih­nachts­ge­schenk. Jetzt ha­be ich al­le, gottseidank.“

Noch im Lift er­greift Schläf­li Pa­nik. Lil­ly! Bis La­den­schluss rennt er kopf­los vor glit­zern­den Aus­la­gen auf und ab, oh­ne auch nur den An­satz ei­ner Idee, was er Lil­ly schen­ken könn­te. Lil­ly, sei­ner Frau, die sich um al­le Weih­nachts­ge­schen­ke küm­mert. Au­ßer um ihr ei­ge­nes. Lilly!

Am ers­ten Tag der Wo­che zwound­fünf­zig, als zum ers­ten Mal vier Flämm­chen in je­dem Au­ge der Re­zep­tio­nis­tin leuch­ten, hat Schläf­li die Idee: Er spricht mit Frau Her­mann, sei­ner lang­jäh­ri­gen Se­kre­tä­rin. „Ha­ben Sie ei­ne Idee für mei­ne Frau?“ Frau Her­mann schaut oh­ne Über­ra­schung von ih­rem Dos­sier auf. „Was ha­ben wir für ein Bud­get? Letz­tes Jahr wa­ren es dreitausend.“

Am nächs­ten Tag klin­gelt bei Lil­ly Schläf­li das Te­le­fon. „Ich fürch­te­te schon, er kauft die­ses Jahr sel­ber et­was“, sagt sie er­leich­tert, „wie hoch ist das Budget?“

„Dreid­rei“, ant­wor­tet Frau Hermann.

„Ich hab was für drei­sie­ben­fünf­zig, das krie­gen Sie durch.“

„Sein Bud­get für Sie, Frau Her­mann, ist üb­ri­gens zwei­hun­dert, fin­den Sie da etwas?“

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