Die Höflichkeit der Könige

Vom Büro zum Leinenhof muss man im Mittagsverkehr mit etwa einer halben Stunde rechnen. Sagen wir, zur Sicherheit, vierzig Minuten. Es muss nur eine neue Baustelle entstanden sein, dann sind zehn Minuten schnell weg.
Zwölf Uhr dreißig im Leinenhof minus vierzig Minuten, das heisst zehn vor zwölf ist Abfahrt spätestens. Also ein Taxi auf viertel vor zwölf. Eher etwas früher, falls es sich verspätet. Bänziger ruft im Empfang an und bestellt ein Taxi auf zwanzig vor zwölf.
Kurz darauf ruft er nochmals an und ändert die Zeit auf fünf nach halb zwölf. Da kann man noch so pünktlich sein, wenn der andere schon dort ist, wirkt man immer wie zu spät. Der, der schon dort ist, ist immer im Vorteil. Der Tisch, an dem er sitzt, ist dann sein Tisch. Der andere muss sich zu ihm setzen.
Und der, der zuerst dort ist, bekommt den besseren Platz, weil er ja so sitzen muss, dass er das Lokal überblickt und auf sich aufmerksam machen kann, wenn der andere kommt. Der andere muss dann auf die Uhr schauen und sagen: „ Nicht wahr, wir hatten halb eins gesagt?“
Und der, der schon dort ist, kann dann ohne auf die Uhr zu schauen nachsichtig abwinken und „macht nichts, so konnte ich endlich die Zeitung lesen“ sagen.
Noch besser: Man hat schon ein halb leeres Mineralwasser vor sich stehen. Dann muss der Pünktliche fragen: „Sind Sie schon lange hier?“ Und der zu Frühe kann antworten: „Nein, gerade gekommen.“
So gesehen sollte Bänziger das Taxi vielleicht schon auf elf Uhr dreißig bestellen. Das gibt ihm auch im Falle seines worst case scenarios genug Spielraum, um sich gleich beim Eintreffen ein Mineralwasser zu bestellen und es sofort halb leerzutrinken.
Um fünf vor halb meldet der Empfang, das Taxi sei da. Bänziger lässt dem Fahrer ausrichten, er solle warten.
Denn allzu früh dort sein, ist natürlich auch nicht gut. Falls der andere einen erwischt, wie man schon eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit auf ihn wartet, denkt der, man habe nichts zu tun. Oder man könne ihn kaum erwarten. Ein Eindruck, den Bänziger gerade gegenüber Meierhans um jeden Preis vermeiden will. Ein schmaler Grat liegt zwischen Warten und Erwarten. Man muss schon ein gutes Gespür dafür haben, ab wann schon dort zu sein auch etwas Unterwürfiges ausstrahlt.
Es gibt keine neue Baustelle, im Gegenteil: Alle alten scheinen verschwunden. Und der Mittagsverkehr hat auch noch nicht eingesetzt. Eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit steigt Bänziger aus dem Taxi. Zwanzig Minuten verbringt er damit, zielstrebig außer Sichtweite des Restaurants auf und ab zu gehen. Dann geht er ins Lokal, sucht sich einen Platz und bestellt Zeitung und Mineralwasser.
Die Sache läuft hervorragend. Meierhans kommt nicht nur nach ihm, er kommt sogar zu spät.
Er kommt sogar viel zu spät. Um viertel vor eins wird Bänziger unruhig. Stimmt der Ort? Stimmt die Zeit? Er zieht unauffällig die Agenda aus der Jackentasche. Doch, hier steht es. Mittwoch, zwölf Uhr dreißig, Leinenhof: Meierhans.
Noch zehn Minuten gibt er ihm Zeit, dann winkt er dem Kellner. „Ich glaube, ich bestelle schon mal. Was ist das Tagesmenu?“ „Manzo Brasato, wie jeden Donnerstag.“