Buchser himself
Lesen Sie hier eine zwanzig Jahre alte Winterkolumne aus Martin Suters Evergreensammlung.
Die Bergruhe ist ein alter Kasten voller knarrender Parketts, pfeifender Wasserleitungen, klopfender Radiatoren und rauschender wc-Spülungen. Wenn endlich der Alleinunterhalter in der Halle seine Orgeln abschaltet, hört man die Schritte derer, die ins Bett gehen, und die Taxis derer, die noch nicht genug haben. Und Buchser weiß: Die kommen in ein paar Stunden zurück. Und das nicht leiser.
Nach der dritten praktisch schlaflosen Nacht macht er Martha vor dem Frühstück eine Szene. Auf die Atmosphäre, sagt er, pfeife er. Lieber wohne er in einem schallisolierten Bunker und könne schlafen. Er sei in den Ferien, und für ihn heiße das: sauer verdiente, bitternötige Erholung. Ruhe brauche er, Rambazamba habe er danach wieder genug.
Martha begleitet ihn nicht zum Frühstück und weigert sich auch, mit ihm langlaufen zu gehen. Aber als Buchser am Nachmittag zurückkommt, liegt ein Säckchen der Dorfdrogerie mit einer Schachtel Ohropax auf seinem Nachttisch.
Noch nie in seinem Leben habe er Ohropax benützt, mault er. Das dürfe er keinem Menschen erzählen, dass er in der Bergruhe mit Ohropax habe schlafen müssen.
Aber als er kurz vor Mitternacht noch immer den Zugaben des Synthesizers (das dritte Mal Volare) lauscht und kurz darauf der Zimmernachbar neben ihm ein Bad einlaufen lässt und der Zimmernachbar über ihm seine neuen Skischuhe einläuft, schaltet er die Nachttischlampe an (soll Martha ruhig aufwachen), öffnet die Packung Ohropax, liest die karge Gebrauchsanweisung, knetet zwei passende Kügelchen und stopft sie in die Ohren.
Auf einen Schlag sind die Geräusche ausgeknipst.
Buchser löscht das Licht, schließt die Augen und wundert sich, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen ist.
Plötzlich hört er ganz in seiner Nähe jemanden atmen. Martha ist es nicht, er kennt ihr Atmen. Es klingt nach einem Mann. Ein etwas heiseres Einatmen, dann nichts, dann ein stoßweises Ausatmen, dann wieder nichts, dann ein gieriges Einatmen, nichts, nichts, dann ein erleichtertes Ausatmen, nichts, ein flaches Hecheln, nichts.
Und dazu das Rauschen. Ein dumpfer, pulsierender Geräuschteppich, wie von einer Großstadt vor einem nicht ganz schalldichten Fenster. Jedes Mal, wenn das Atmen stoppt, schwillt es an. Wispert, klopft, knackt, braust, brodelt, bis es wieder übertönt wird von einer neuen Variante des Luftholens und ‑ausstoßens seines Mitschläfers.
Buchser zupft die Ohropax aus den Ohren. Sofort werden die Geräusche abgelöst vom Jammern eines Wasserrohrs und vom dumpfen Aufschlag einer kleinen
Dachlawine. Er stopft die Wachspfropfen nochmals rein. Da ist es wieder, das Rauschen, Brodeln, Pulsieren, Klopfen, Knacken. Und auch das Einatmen, das Nichts, das Ausatmen, das Nichts.
Plötzlich weiß Buchser, wer das ist, den er da hört: Buchser himself.
Noch zwei Atemzüge, noch einmal das Anschwellen des inneren Rauschens, dann reißt er die Ohropax wieder raus.
Es geht Buchser mit Buchser wie den meisten Leuten:
Er hält ihn nicht aus.