Aepplis Personengedächtnis
Seit einem traumatischen Erlebnis kurz nach seinem Aufstieg zum General Manager ist Aeppli vorsichtig bei Begegnungen mit Mitarbeitern. Er war damals selber so beeindruckt von der Höhe seiner Position, dass er, vor allem zur eigenen Entkrampfung, jede Gelegenheit nutzte, die gewaltigen Standesunterschiede zwischen ihm und den unteren Chargen zu überbrücken. Er wollte nicht, dass es hiess, die Karriere sei ihm zu Kopf gestiegen. Er wollte, dass man von ihm sagte: „Das würde man nicht meinen, dass der Aeppli General Manager ist. So normal wie der ist.“
In diesem Bestreben, seine entrückte Position durch Normalität zu kompensieren oder, wer weiss, zu unterstreichen, passierte ihm das mit Birer. Er kam, wie immer bis zu dieser Begegnung, absichtlich zur Stosszeit ins Büro, wartete bürgernah mit dem Fussvolk auf den Lift und lehnte jovial ab, als man ihm den Vortritt gewähren wollte. Und wie er so stumm lächelnd inmitten stumm Lächelnder auf den ersten Halt des Lifts wartete, fiel ihm plötzlich ein neues Gesicht auf.
„Aha, ein neues Gesicht“, sagte er und streckte die Hand aus. „Jakob Aeppli, ich bin hier der, der alles ausbadet.“
Der andere, ein Hagerer, Schüchterner, aber, wie es sich gleich herausstellen würde, auf die vielen Schüchternen eigene Art Unverfrorener, nahm die Hand und antwortete in die Stille des Lifts: „Hans Birer, Finanz.“
„Im Februar angefangen?“, fragte Aeppli aufmunternd. Man befand sich in der ersten Februarwoche.
„Ja, im Februar. Neunundachtzig“, präzisierte Birer, dieser Buchhalter.
Und Aeppli stammelte: „Natürlich, klar, Birer, blöd, Blackout, Birer, Finanz, hatten früher einen Bart, nicht wahr? Oder eine andere Frisur? Abgenommen? Kontaktlinsen?“
Und dieser impertinente Birer schüttelte bei jedem Strohhalm, nach dem Aeppli griff, hartnäckig den Kopf bis in die siebte Etage, Finanz.
Seither ist es Aeppli egal, ob man ihn für überheblich hält. Lieber überheblich als ein Trottel. Liftfahrten im Personallift passieren ihm nur noch, wenn der Direktionslift in Revision ist. Und dann verschanzt er sich hinter einem Memo oder ein angeregtes Gespräch mit jemandem, den er kennt und eigens zu diesem Zweck mitnimmt.
Ausser heute. Er ist auf dem Weg zu einem Termin, merkt im Wagen, dass er die Agenda vergessen hat, fährt noch einmal aus der Garage hoch, verliert die Nerven, als der Direktionslift nie kommt und nimmt den Personallift.
Bis zum vierten Stock ist er allein. Dann steigt ein blonder junger Mann ein, erschrickt, drückt auf Parterre und studiert seine tadellosen Schuhspitzen.
Aeppli hat ein Nicken angedeutet und studiert den Neuankömmling aus den Augenwinkeln. Dieses kantige Kinn und dieser abgestufte Haarschnitt kommen ihm bekannt vor. Vierter Stock, Marketing. Einer der vielen Marketingschnösel, wahrscheinlich.
Der andere hebt den Kopf und Aeppli kann einen Blickkontakt nicht mehr vermeiden. Er streckt die Agenda hoch und sagt: „Agenda vergessen.“
Der Marketingschnösel lächelt verständnisvoll. „Ist mir auch schon passiert.“
Und da Aeppli auch die Stimme bekannt vorkommt, sagt er, als der Marketingschnösel im Parterre aussteigt: „Wir sehen uns ja dann am Marketingrapport.“
Natürlich ist der junge Mann mit dem Stufenschnitt völlig überrascht, als er eine Woche später den Bescheid erhält, das Marketing habe ihm einen andern Bewerber vorgezogen.
Nur einmal erschienen am 9.11.95