Nach dem Kurswechsel
Vor achtundzwanzig Jahren fand in Rio de Janeiro der Erdgipfel statt. Die vereinten Nationen beschlossen dort, in Zukunft der Umwelt mehr Sorge zu tragen. Die Folgen dieses Gipfels für die Vorstandsetagen war das Thema von Martin Suters erster Business-Class-Kolumne.
Der Delegierte des Verwaltungsrates trägt einen schlichten, handgewobenen Blazer ohne Revers, worüber sich der Leiter Marketing und Verkauf (Divison West I) seiner Frau gegenüber schon oft lustig gemacht hat. Er selber trägt einen Zweireiher aus naturgefärbter, unbehandelter Baumwolle mit einem Nadelstreifen aus ungebleichter Thai-Seide. „Man kann sich auch oeko-effizient kleiden, ohne gleich wie der Pfarrer Sieber daherzukommen“, pflegt er zu sagen, wenn auch im kleinen Kreis.
Die Sitzung dauert nun schon gegen vier Stunden, und ein Ende ist nicht abzusehen. Der Leiter Produktion Werk Süd meldet sich zu Wort. Er steht kurz vor der Pensionierung und ist wohl etwas korpulent. Er trägt eine, auch für den unvoreingenommenen Beobachter sehr deplaziert wirkende, irgendwie blusige Oberbekleidung aus grober Leine und darüber wie immer dieses enganliegende bunte Gilet schwer zu definierender Herkunft, wahrscheinlich Bestandteil einer fernöstlichen Volkstracht, als wehmütige Anspielung an seine früheren Bekleidungsgewohnheiten. Er war nämlich vor der Publikation von Schmidheinys „Kurswechsel“ Gilet-Träger. „Meine Herren“, beginnt er, und fängt sofort einen mitleidig-belustigten Blick der einzigen Frau der Runde, der Leiterin Personal/Ausbildung (Administation) ein. Sie trägt etwas Einteiliges, vielleicht etwas zu Sackartiges aber dennoch nicht Unkleidsames aus einer raschelnden, lose verwobenen Naturfaser und, zum Bedauern des Leiters Personal/Ausbildung (Produktion), seit dem Erdgipfel in Rio keinerlei Schminke mehr.
Nicht zum ersten Mal bespricht das Board die längst fällige Anpassung der Unternehmensleitsätze in Richtung Oeko-Effizienz, was die erste Voraussetzung für die Ueberarbeitung wenigstens der Bände 1 bis 6 des Organisationshandbuches (OHB) wäre. Der durch den Fauxpas bei der Anrede des Boards aus dem Konzept gebrachte Leiter Produktion Werk Süd wird unterbrochen durch den Leiter Finanz (Nichtoperativer Bereich, gestrickte, knielange Wolljacke), der seine, durch das diesjährige glänzende Resultat seines Bereiches erworbene Sonderposition dazu ausnützt, eine kurze Mittagspause vorzuschlagen. Die Beteiligten atmen auf. Der Leiter Marketing und Verkauf (Divison West I) reisst die Fenster auf, damit sich der schwere Duft der Räucherstäbchen (Patchouly Incense, wie immer an Board Meetings) verflüchtigt, und alle packen ihre Lunchpakete aus. Der Leiter Finanz (Nichtoperativer Bereich) wickelt aus einem Stück beidseitig mit Buchungen bedruckten Recycling-Endlosformular ein selbstgebackenes Holzofen-Roggenbrötchen und unterhält sich mit vollem Mund mit dem Delegierten des Verwaltungsrates, der gedankenverloren den Aludeckel seines Bio-Joghurts sauberleckt und ihn dann zu den anderen in die Brusttasche schiebt. Und während der Leiter Marketing und Verkauf (Divison West I) unter dem Sitzungstisch unauffällig den halben Quadratmeter Alufolie zu entfernen versucht, in den seine zum Nonkonformismus neigende Frau seinen Ballaststoff-Snack eingepackt hat, hört man den Leiter Produktion Werk Süd fragen:„Sind kalte Sojaburger eigentlich säure- oder basenüberschüssig?“