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Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Allmen im Lockdown

Am An­fang ist der Lock­down für Jo­hann Fried­rich von All­men gut aus­zu­hal­ten. Er ver­bringt noch mehr Zeit im Bett als sonst. Er nennt es „Das Le­ben schwän­zen“, Sie er­in­nern sich. Wenn der Rest der Welt sei­ner Tä­tig­keit nach­geht, ein­fach im Bett lie­gen und sich von den fer­nen Ge­räu­schen der Em­sig­keit in den Schlaf sum­men lassen. 

Car­los und Ma­ría be­sor­gen Park und Haus­halt. Das Treu­hand­bü­ro in der Vil­la hat auf Home-Of­fice um­ge­stellt. Kein Mensch ist da, das Wet­ter ist herr­lich, All­men hat den klei­nen Park ganz für sich allein. 

Wenn er nicht auf ei­ner Lie­ge im Schat­ten des Nuss­baums döst, liest er am grü­nen ble­cher­nen Gar­ten­tisch. Es gibt so vie­les, das er noch nicht ge­le­sen hat, oder das er noch ein­mal le­sen will. 

Oder er spielt Kla­vier in sei­ner glä­ser­nen Treib­haus­bi­blio­thek bei of­fe­nem Fens­ter und stellt sich vor, wie abends die Klän­ge von Cho­pins Noc­turnes über den Ra­sen we­hen und von nie­mand Frem­dem ge­hört wer­den können. 

Aber mit der Zeit be­ginnt er Ge­sell­schaft zu ver­mis­sen. Na­tür­lich hat er Car­los und Ma­ría. Sie ste­hen ihm ja auch na­he. Aber zwi­schen ihm und Car­los be­steht nach wie vor das Die­ner-Herr-Ver­hält­nis, das Car­los bei ih­rer ers­ten Be­geg­nung vor vie­len Jah­ren eta­bliert hat­te. All­mens spär­li­che Ver­su­che, die­sem ei­ne et­was ka­me­rad­schaft­li­che No­te zu ver­lei­hen, wa­ren an Car­los stets abgeprallt. 

Ma­ría ist in die­ser Hin­sicht un­kom­pli­zier­ter. Ihr Re­spekt vor All­men be­hält im­mer ei­ne leicht iro­ni­sche No­te. All­men ge­fällt das zwar, aber aus Rück­sicht auf Car­los‘ mit­tel­ame­ri­ka­ni­sche Ei­fer­sucht wahrt er auch zu ihr ei­ne sta­tus­ge­rech­te Distanz. 

Die Mög­lich­keit, mit sei­nem weit­läu­fi­gen Be­kann­ten­kreis we­nigs­tens di­gi­tal Kon­takt zu pfle­gen, bleibt All­men ver­schlos­sen. Er be­sitzt we­der Com­pu­ter noch Lap­top, noch Ta­blet noch Smart­phone. Das ein­zi­ge Elek­tro­ni­sche in sei­nem Be­sitz ist sei­ne high­tec Mu­sik­an­la­ge und ein Han­dy, mit dem er au­ßer te­le­fo­nie­ren nur Text­nach­rich­ten sen­den könn­te. Ei­ne Ge­wohn­heit, die er ein we­nig verachtet. 

In der fünf­ten Wo­che sei­ner Qua­ran­tä­ne muss er sich, aber nur sich, zum ers­ten Mal ein­ge­ste­hen, dass er sich ein we­nig ein­sam fühlt. Es ru­fen ihn zwar im­mer wie­der Freun­de und Be­kann­te an, die ih­re ei­ge­ne Ein­sam­keit mit der Sor­ge um sei­ne tar­nen, aber ein Te­le­fon­ge­spräch zwi­schen zwei Ein­sa­men, die es nicht zu­ge­ben, hilft nicht ge­gen die Einsamkeit. 

In der sechs­ten Wo­che klin­gelt spät in der Nacht sei­ne Fest­lei­tung. Car­los und Ma­ría, die nor­ma­ler­wei­se die An­ru­fe be­ant­wor­ten, ha­ben sich schon in die Man­sar­de zu­rück­ge­zo­gen, und so steht er von sei­nem Lieb­lings-Le­se­ses­sel auf und hebt ab.

Es ist Jo­ël­le Hirt, ge­nannt Jo­jo, die Toch­ter von Klaus Hirt (er­in­nern Sie sich an ih­re ers­te Be­geg­nung in der Oper in „All­men und die Li­bel­len?“). Sie hat­te nach dem Tod ih­res Va­ters die Hälf­te der Fi­nanz­ge­sell­schaft ge­erbt, die meh­re­re gro­ße Un­ter­neh­men des Lan­des kon­trol­liert und von ih­rem Bru­der nicht oh­ne Ge­schick ge­ma­nagt wird. Sie führt wei­ter­hin das Le­ben ei­nes Play­girls. All­men hat sie seit ih­rer Af­fä­re mit den Li­bel­len nur noch von wei­tem bei ge­sell­schaft­li­chen An­läs­sen gesehen.

„Jo­jo! Du? Wie char­ming!“, ruft er aus. „Wie geht es dir?“

„Schlecht. Füh­le mich ein­sam. Und du?“

Die­ses of­fe­ne Ein­ge­ständ­nis aus­ge­rech­net von Jo­jo als ers­tem Men­schen in der Co­ro­na-Kri­se über­rascht All­men der­ma­ßen, dass er ant­wor­tet: „Auch.“

„Auch ein­sam?“

„Ein we­nig.“

„Wol­len wir zu­sam­men et­was ein­sam sein?“

All­men über­legt nur sehr kurz. Jo­jo ist die idea­le Frau zum ge­mein­sam ein­sam sein. „Gu­te Idee“, ant­wor­tet er, „wo?“ Bei ihm im Gärt­ner­haus kommt nicht in­fra­ge. Sie glaubt noch im­mer, er woh­ne in der Vil­la Schwarza­cker selbst.

„In Wien. Bei mir. Im Pa­lais Bon­soir. Am Rand des schöns­ten Parks der Welt: La­xen­burg. Mor­gen um neun, Ge­ne­ral Avia­ti­on. Soll ich dich ab­ho­len, oder bringt dich dein Fahrer?“

„Mein Fah­rer. Und sa­gen wir: zehn.“

„Noch im­mer Lang­schlä­fer“ Jo­jo lacht und legt auf. 


Am nächs­ten Mor­gen bringt ihn Herr Ar­nold in sei­nem Ca­dil­lac Fleet­wood zum Pri­vat­flug­ha­fen. Et­was spä­ter als zehn. Ei­ne von Jo­jos Al­lü­ren ist die Un­pünkt­lich­keit. Er will ihr dar­in nicht nachstehen.

Nach dem Start ih­res Fir­men­jets ser­viert der Co­pi­lot ein klei­nes Cham­pa­gner­früh­stück, das ih­nen die gu­te Stun­de bis Wien auf das An­ge­nehms­te ver­kürzt. Nach der Lan­dung emp­fängt sie ein Be­am­ter und ver­langt ih­ren Coronatest. 

Co­ro­na­test? Die For­de­rung trifft All­men unvorbereitet.

Aber Jo­ël­le Hirt ent­nimmt ih­rer Hand­ta­sche zwei Do­ku­men­te mit dem Brief­kopf ei­nes La­bors und vie­len Stem­peln. „Ne­ga­tiv“ steht auf dem mit ih­rem Na­men. Und auf dem mit All­mens Na­men ebenfalls. 

„Wo­her hast du die Tests?“, fragt All­men spä­ter in der Li­mou­si­ne, die sie ab­ge­holt hat. 

„Be­zie­hun­gen.“

Das Pa­lais Bon­soir ist ei­ne Mi­ni Ko­pie des Schloss Schön­brunn. Ein Zu­lie­fe­rer der deut­schen Pan­zer­hau­bit­zen­pro­duk­ti­on hat­te es sich in der Drei­ßi­ger­jah­ren er­bau­en las­sen. Nach dem Krieg dien­te es als Pri­vat­kli­nik, da­nach fiel es ei­nem Spe­ku­lan­ten in die Hän­de, der kurz dar­auf Kon­kurs an­mel­de­te. Das Pa­lais wur­de jah­re­lang zum Zank­ap­fel der Gläu­bi­ger und zer­fiel lang­sam, bis Jo­jo es zu ei­nem über­höh­ten Preis kauf­te, auf­wen­dig re­no­vier­te und mit An­ti­qui­tä­ten vollstopfte. 

Im Erd­ge­schoss be­fin­den sich die Re­prä­sen­ta­ti­ons­räu­me, in der ers­ten Eta­ge acht­zehn ge­fan­ge­ne Zim­mer, an­ein­an­der­ge­reiht wie Per­len an der Schnur. Das Schlaf­zim­mer, das Jo­jo All­men zu­weist, be­fin­det sich ne­ben ih­rem ei­ge­nen. Er be­nutzt es in die­ser ers­ten Nacht nicht.

Am nächs­ten Mor­gen be­ge­ben sie sich früh in den Schloss­park Laxenburg.

Die Pan­de­mie hat ihn fast men­schen­leer gemacht.

Jo­jo trägt ei­ne Art Par­odie auf ein Reit­kos­tüm, das ihr, wie sie ihm er­zählt, ih­re mo­men­ta­ne Lieb­lings­de­si­gne­rin ent­wor­fen hat. Die en­ge Reit­ho­se ist gelb und der Be­satz über Po, Ober­schen­kel und Knie leuch­tend rot. Das tail­lier­te Ja­ckett nimmt das The­ma auf, aber um­ge­kehrt: Das Rot do­mi­niert, Be­sät­ze auf Re­vers, Ta­schen und Knopf­leis­te sind gelb. 

All­men trägt ei­ne Cor­du­roy Ho­se, ein Har­ris-Tweed-Ja­ckett und ei­nen Aran Roll­kra­gen­pull­over. Er fin­det, er se­he ein we­nig aus wie die Reit­leh­rer, die Prin­zes­sin­nen sich zum Lieb­ha­ber nehmen.

So ge­hen sie zü­gi­gen Schrit­tes durch den schwei­gen­den Park auf den ver­schwie­ge­nen Lieb­lings­we­gen von Sis­si und Franz Josef. 

Lan­ge spre­chen sie kaum. Ab­ge­se­hen von ei­nem ge­le­gent­li­chen „Schön, nicht wahr?“

„Und so still.“

Von die­ser Sei­te kennt All­men Jo­jo nicht. Nor­ma­ler­wei­se ist sie die, die Schwei­gen nicht aus­hält. Als glau­be sie, dass sie die Leu­te lang­weilt, wenn sie nicht spricht. Oder viel­leicht, denkt All­men, will sie durch das Spre­chen ihr Ge­sicht in Be­we­gung hal­ten. Als woll­te sie ver­hin­dern, dass man merkt, dass die Fal­ten beim Schwei­gen nicht mehr ver­schwin­den, die das Mie­nen­spiel beim Spre­chen verursacht.

Manch­mal hakt Jo­jo sich bei All­men ein, und sie ge­hen wie Ge­schwis­ter über die Wie­sen und We­ge, bei­de in ih­re Ge­dan­ken ver­sun­ken, weit weg voneinander.

Doch manch­mal zeigt sich Jo­jo von ei­ner wei­te­ren Sei­te, die All­men nicht kennt. Dann ver­gisst sie ih­ren for­ciert mun­te­ren Kon­ver­sa­ti­ons-Ton und ih­re hoch­ge­schraub­te Stim­me und er­zählt einfach. 

„Weißt du, wie vie­le Müt­ter ich hatte?“

„Nein.“

„Schätz mal.“

„Drei.“

„Vier. Ma­ma, Ma­man, Mum und Mami.“

„In chro­no­lo­gi­scher Reihenfolge?“

„Nein. In der Rei­hen­fol­ge, in der ich sie liebte.“

„Die Liebs­te zuerst?“.“

„Zu­letzt.“

„Und die war auch die leibliche?“

„Nein. Die leib­li­che war Maman.“

Ein­mal frag­te Jo­jo: „Und du?“

„Was ich?“

„Ich weiß nichts über dich.“

„Was willst du wis­sen?“, fragt All­men, um Zeit zu gewinnen.

„Wie vie­le Müt­ter hat­test du?“

„Ei­gent­lich keine.“

Jo­ël­le blieb stehen.

„Sie ist zu ei­ner Zeit ver­stor­ben, an die ich mich kaum er­in­nern kann.“

„Ach.“ Sie ge­hen weiter.

„Und wer hat sich um Dich gekümmert?“

„Cait­lin, mei­ne schot­ti­sche Nan­ny“, lügt Allmen.

„Nan­nys hat­te ich auch. Je­de Menge.“

„War­um so vie­le? Hast du sie nicht ausgehalten?“

„Sie mich nicht.“

„Ver­ste­he.“

Ei­ne Wei­le ge­hen sie schwei­gend wei­ter. Kein Mensch ist zu se­hen. Der Wind, der eben noch in den Zwei­gen spiel­te, hat sich ge­legt, wie kurz vor ei­nem Gewitter.

Jo­jo hakt sich wie­der ein. „Fin­dest du, ich sei schwer auszuhalten?“

„Wie kommst du darauf?“

„Weil du ge­sagt hast ‘ver­ste­he’ “.

„Nein, nein. So ha­be ich das nicht gemeint.“

Sie gibt sich mit der Ant­wort zufrieden.

Sie kom­men an zwei an­ein­an­der­ge­schmieg­ten Bäu­men vor­bei. „Hüb­sches Paar“, mur­melt Jo­jo. All­men weiss nicht, ob sie die Bäu­me meint oder sie beide.

Wahr­schein­lich sie bei­de, denn sie fragt: „War­um hast du kei­ne Frau?“

„Ich ha­be ja ei­ne“, ist sei­ne char­man­te Antwort.

Sie lacht auf. „Jetzt nicht mehr!“, ruft sie und rennt los.

Et­wa fünf­zig Me­ter wei­ter bleibt sie ste­hen und war­tet. „Frü­her wärst du mir nach­ge­rannt“, sagt sie, als er sie erreicht.

„Frü­her wärst du nicht weg­ge­rannt“, ant­wor­tet All­men lächelnd.

Zehn Ta­ge blei­ben sie im Pa­lais Bon­soir. Je­den Tag spa­zie­ren sie durch den Park. Am elf­ten flie­gen sie zurück. 

Vor dem Ge­bäu­de der Jet Avia­ti­on war­ten Jo­jos Li­mo und Herr Ar­nolds Fleetwood.

Beim Ab­schied hat Jo­jo wie­der zu ih­rem mun­te­ren Kon­ver­sa­ti­ons-Ton und ih­rer hoch­ge­schraub­te Stim­me zurückgefunden.

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