Der neue Allmen
Einige von Ihnen dürften es längst vermutet haben: Johann Friedrich von Allmens Zürcher Lieblingsbar besitzt ein Vorbild: die Kronenhalle Bar. Dort trifft er sich mit seinen Verabredungen vor der Oper oder zum „Songdowner“ wie er es scherzhaft zu nennen pflegt, wenn sich die Aufführung etwas in die Länge gezogen hat.
Dorthin begibt er sich auch, wenn er zufällig einmal etwas knapp bei Kasse ist, denn in einer Bar verkehren meist großzügige Menschen und solche, die wissen, dass Allmens Bonität manchmal gewissen Schwankungen unterliegt.
Oft hält sich Allmen aber auch ganz alleine dort auf. Er liebt ihren Geruch nach Holz, Schnittblumen, Parfums und Sorglosigkeit. Ihm behagt das Licht – hell genug, um sich zu erkennen, aber nicht so hell, dass man sich wiedererkennt. Auch die Tätigkeit, der hier nachgegangen wird, verdient seine Ehrfurcht. Es wird nicht getrunken. Aufs Sorgfältigste werden aus Destillaten, Aromen, Ingredienzen und in Zubereitungsritualen Getränke hergestellt, die sowohl den kulinarischen als auch den ästhetischen und den kulturellen Bedürfnissen genügen.
An einem nasskalten Tag im Herbst sitzt Allmen auf seinem angestammten Barhocker und spielt mit seinem Glasuntersatz. Er nippt an einem Old Fashioned. Nichts dagegen einzuwenden, außer dass es eben ein Old Fashioned ist. Keine Exotik, kein Abenteuer, keine Passion. Einfach so ein Drink mit Schirmchen und Blümchen, wie ihn die Pensionäre in Miami Beach in leuchtfarbenen Bermudas trinken.
Vor ihm geht der Chef der Bar, Christian Heiss, konzentriert seiner Arbeit nach. „Schmeckt’s nicht?“, fragt er beiläufig.
„Doch, doch. Bisschen old-fashioned halt. Nicht der Drink meiner Träume.“
„Wovon träumen Sie denn, Herr von Allmen?“
Allmen denkt nach. Mexikanische Wüste. Ein paar Kakteen. Ein paar leere Benzinfässer. Eine Bar mit Zapfsäule. Sein Cadillac Fleetwood hat den Geist aufgegeben. Aus der Bar dröhnt Cantina-Musik. Unter dem Ventilator tanzt gedankenverloren eine mexikanische Schönheit. Sie mustert ihn kurz, geht hinter den Tresen, mixt etwas und stellt es vor ihn hin. Er trinkt es. Unbeschreiblich. Kalt, herb, süß, rauchig, frisch, fremd und doch vertraut.
Allmen schiebt das leere Glas zurück. Sie mixt ihm einen neuen. „Wie heißt du“, fragt sie.
„Allmen.“
„Und das?“ Er deutet auf den Drink.
„Allmen.“
Mit dieser Schilderung hat Allmen den Ehrgeiz des Chef de Bar angestachelt. Immer wieder sieht man ihn mit Essenzen, Likörs, Säften, Schnäpsen, Früchten und Tinkturen experimentieren wie einen Zauberlehrling.
Und immer wieder überreicht er Allmen eine kleine Probe des Resultats und fragt: „So?“
Doch jedes Mal schüttelt Allmen den Kopf. „Fast. Aber etwas fehlt.“
Wie wir alle wissen, hat bei den größten Erfindungen oft der Zufall die Hand im Spiel. In diesem Fall sind es sogar zwei Zufälle: Johann Friedrich von Allmen betritt höchstpersönlich die kleine Küche des Gärtnerhäuschens. Er kann Carlos nirgends finden, das Feuer im Schwedenofen ist ausgegangen, und ihn fröstelt bei der Lektüre. Er wüsste zwar theoretisch schon, wie man es wieder in Gang setzt. Aber praktisch nicht so ganz. Auf der Suche nach seinem Diener betritt er die Küche – und ein Duft strömt ihm entgegen, der ihn weit weg trägt in die fernen Länder, die er bereist hat.
María steht vor einem Holzbrett, das grün getränkt ist von einem Gewürzsaft und zerkleinert die entstielten Blätter in rasendem Tempo.
„Was ist das, María?“
„Cilantro, Don John. Ich mache Guacamole. Das geht nicht ohne Koriander.“ Johann Friedrich von Allmen beugt sich über das Brett, schnuppert und ruft aus:
„Das! Das ist es, was fehlt!“
Noch am selben Tag kosten sie die neue Rezeptur. Der Chef de Bar und sein Team und ein zufällig anwesender Schriftsteller lassen sich in aller Form feiern und taufen den Cocktail auf den einzig möglichen Namen:
Der Allmen Cocktail!
Diese stimmungsvolle, aber intime Cocktailtaufe ist natürlich einem wie Johann Friedrich von Allmen – wie wir ihn kennen, und wir kennen ihn ja – ein paar Nummern zu klein. Nicht weil er zur Großspurigkeit neigt, das wäre ihm zu ordinär, sondern weil er die Kleinkariertheit fürchtet.
Er beschließt, den Anlass am selben Ort, aber in bedeutend angemessenerem Rahmen zu feiern und lässt in die Kronenhalle Bar bitten, das Vorbild der Goldenbar. Und zwar im großen Stil an einem Samstag, den 29. Februar. Besondere Ereignisse verlangen, wie wir alle wissen, nach besonderen Daten.
Allmählich füllt sich die Bar.
Und sachte kommt eine Stimmung auf wie in der First-Class-Bar eines Ozeandampfers kurz nach dem Ablegen. Etwas Altes ist noch nicht ganz vorbei, etwas Neues hat noch nicht ganz begonnen.
Die ersten Allmen-Cocktails werden den Gästen kredenzt. Hübsche geschliffene Cocktailschalen, in deren zart grünlich schimmerndem Inhalt ein Eiswürfel dümpelt, mit einem Blättchen Koriander geschmückt.
Wir haben uns in der Gesellschaft diskret umgehört. Und vor allem Herrn von Allmen, den Gastgeber gesucht.
„Na, dann suchen Sie mal schön.“
„Wie ich John kenne …“
„John?“ “
„So nennen Freunde Johann Friedrich von Allmen. Wie ich John kenne, taucht er jeden Moment auf oder nicht.“
„Read my lips: Er kommt nicht.“
„Guten Abend Herr von Allmen, danke für die nette Einladung. Ich habe Sie mir größer vorgestellt.“
„Wir haben Sie in ‘Kohlhiesels Töchter’ gesehen. Sie waren hinreissend!“
„Ich habe ausdrücklich gefragt, ob es den auch alkoholfrei gebe. Die gute Absicht war also vorhanden.“
„Im Ernst? Du hast ein Geschenk für den Gastgeber? Und wo ist er denn, dein Gastgeber, wo?“
„Ein altes komorisches Sprichwort besagt: ‘Das Nichterscheinen ist die Höflichkeit des Gastgebers.’ “
Wollen wir nicht mal was total Ernstes zusammen machen, Patrick?“
„Du meinst so eine richtige Radio Vermisstenmeldung? Um schonendes Anhalten wird gebeten und so?“
„Der Allmen habe gesagt:‘Die Rechnung geht dann auf mich.’ “
„Sie? Ein Buch? Selbst geschrieben?“
Der späte Nachmittag ist fast unmerklich in einen exotisch duftenden frühen Abend geglitten. Ein paar der Gäste sind bereits gegangen, und die verbleibenden rücken zusammen und erheben ein letztes oder zweitletztes Mal die Gläser auf den unvergleichlichen, grosszügigen Gastgeber, Johann Friedrich von Allmen.
Da stößt der Chef de Bar, Christian Heiss, dazu und erkundigt sich diskret: „Und jetzt, wo Herr von Allmen nicht zugegen ist, wem darf ich die Rechnung übergeben?“